Stellen Sie sich vor, Sie wachen eines Morgens auf und die Welt ist anders. Die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Die Straßen sind blitzeblank, das Wasser des Stadtflusses glasklar. Die Menschen sehen gut aus, sind gut gelaunt und grüßen freundlich. Sie fahren kostenlos mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie gehen in ein Geschäft und suchen sich aus, was Ihr Herz begehrt, ohne dafür zu bezahlen. Sie wählen frei, wann, was und wie viel Sie arbeiten möchten. Einen Tag backen Sie Brot. Sie arbeiten gerne mit den Händen, Sie schätzen gutes Essen und der Duft, wenn das frischgebackene Brot aus dem Ofen kommt – herrlich! Und Ihre Familie freut sich sowieso. Am nächsten Tag helfen Sie in der Fahrradwerkstatt um die Ecke aus. Sie basteln gerne, haben ein ruhiges Händchen und ein gutes mechanisches Verständnis. Sie flicken Schläuche, erneuern Bremsen und tauschen Glühbirnen aus. Am Ende des Tages haben Sie einem Haufen Menschen geholfen, die jetzt wieder Fahrrad fahren können. Sie sind glücklich und gehen zufrieden ins Bett.
Klingt nicht schlecht, oder? Eine Welt, die ökologisch nachhaltig ist, in der Sie sich keine Sorgen um Geld oder Ihren Arbeitsplatz machen müssen und nur arbeiten, worauf Sie Lust haben. Eine solche Welt imaginiert William Morris in seinem Buch Nachrichten von Nirgendwo (1890). Der englische Künstler, Buchdrucker und Textildesigner zeichnet hier einen krassen Gegenentwurf zu seiner Zeit. Denn was er in den Großstädten Englands im 19. Jahrhundert beobachtet, gefällt ihm überhaupt nicht. Die Städte ersticken unter Smog, die Häuser sind rußgeschwärzt, die Kamine der Fabriken dominieren das Stadtbild. Viele Arbeiter verelenden, sind heruntergehungert, leben in katastrophalen sanitären Bedingungen.
Das Problem liegt für ihn im Kapitalismus. Diese Gesellschaftsordnung lässt zu, dass bestimmte Teile der Bevölkerung in Elend leben, benötigt riesige Fabriken, die die Umwelt verschmutzen, und produziert in Massen qualitativ minderwertige Produkte. Darüber lässt sich durchaus streiten, aber Morris ist nun einmal überzeugter Sozialist und das Buch keine Pro- und Contra-Diskussion über die kapitalistische Produktionsweise, sondern eine sozialistische Utopie. Wie also sieht diese aus?
In mancher Hinsicht war Morris’ Denken überaus fortschrittlich. Nachrichten von Nirgendwo wird manchmal als erste „Ökotopie“ gehandelt, eine Utopie also die sich auch oder vor allem eine ökologisch bessere Welt vorstellt. Besonders interessant ist er als Vorreiter der modernen Städteentwicklung. Denn er ist nicht grundsätzlich gegen urbane Räume, genauso wenig wie er grundsätzlich gegen maschinellen oder technologischen Fortschritt ist. Er findet lediglich, dass die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts – Stadtflucht, Überbevölkerung in den Städten und die Verdrängung der Natur aus den Städten – korrigiert werden sollen. Er plädiert dafür, das Beste aus Stadt und Land zu kombinieren. Die Stadt solle Teil vom Land werden und das Land Teil der Stadt. Städte mit ausreichend Grünflächen, sauberer Luft und Wasser. Ländliche Gegenden, die infrastrukturell gut angebunden und technologisch genauso fortschrittlich sind wie die Städte. Nichts anderes versucht man heutzutage im „urban development“ umzusetzen. Auf Häuserdächern in Innenstädten wachsen neuerdings Bäume und der Netzausbau auf dem Land – nun ja, er ist immerhin geplant…
In anderen Aspekten ist die sozialistische Utopie hingegen ausgesprochen fortschrittshemmend. Die Welt, in die sich der Protagonist William Guest über Nacht transportiert findet, ähnelt eher einer pastoralen Idylle mit Mittelaltereinschlag als irgendeinem futuristischen Szenario – und das, obwohl wir uns im Jahre 2102 befinden. Im 22. Jahrhundert gibt es keine Flugzeuge, kein Internet und schon gar keine KI-Roboter. Denn bei aller berechtigten Kritik am Kapitalismus hat er eines doch geschafft: Dass viele Waren mit der Zeit immer günstiger wurden und der materielle Wohlstand in vielen Teilen der Welt kontinuierlich stieg. In den 1920er Jahren konnten sich nur wenige Wohlhabende ein Auto leisten, einige Jahrzehnte später fast jeder im Land. Diese Art von Fortschritt gibt es hier nicht. Stattdessen wird im Nirgendwo immer noch viel handwerklich und händisch gearbeitet. Guest hilft bei der Heuernte, schlendert über den Wochenmarkt, auf dem regionale Agrarprodukte angeboten werden, oder bewundert Holzschnitzer bei der künstlerischen Veredelung eines Hausfrieses.
Das liegt vor allem an Morris tiefer Liebe für das Mittelalter, die er während seines Studiums für sich entdeckte. Ob gotische Architektur, Buntglasfenster, Schmiedewerk oder Initialen-verzierte Manuskripte, Morris begeisterte sich für all diese Formen der Handwerkskunst. Vor allem gefiel ihm, dass hier das Nützliche und das Schöne zusammentrafen. Gegenstände herzustellen, die sowohl funktional als auch schön waren, wurde zur Leitidee seines Lebens. 1861 gründete er Morris & Company, eine Kunstgewerbefirma, die Möbel, Metallarbeiten, Teppiche, Tapeten, Buntglas und Wandgemälde fertigte. 1891 gründete er die Kelmscott Press, eine Privatdruckerei, die in limitierten Auflagen und mit erheblichem Aufwand Bücher druckte, die sich stilistisch an mittelalterlichen Bilderhandschriften orientierte. Mit seiner Forderung, Handwerk zu Kunst zu erheben, beziehungsweise die Trennung zwischen Handwerk und Kunstwerk aufzuheben, wurde Morris zu einem wichtigen Vorläufer des Bauhaus. Mit seiner Forderung nach dem schönen Buch beeinflusste er die Buchkultur nachhaltig und war maßgeblich für das Aufkommen der Buchkunstbewegung in England verantwortlich.
Diese ästhetische Vision ist wahrscheinlich der reizvollste Aspekt an Morris’ Roman. Denn dem Wunsch, dass eine Gesellschaft lediglich Dinge produziert, die qualitativ hochwertig, mit Sorgfalt hergestellt, nützlich und zudem noch wunderschön sind, kann man schwerlich widersprechen. Keinen billigen Ramsch mehr! Keine Massenware, die in Windeseile produziert wird und genauso schnell wieder kaputt geht. (Diesen Wunsch haben übrigens Marken wie manufactum längst verstanden und zu einem einträglichen Geschäftsmodell gemacht.) Die Vision bezieht sich aber nicht nur auf die Gegenstände, die hergestellt werden, sondern – und das ist besonders wichtig – auf die Qualität der Arbeit.
Denn die Frage nach der Arbeit ist ein Knackpunkt in jeder sozialistischen Theorie. Die Kritik sagt: Es würde doch niemand mehr arbeiten gehen, wenn er nicht müsste! Darauf gibt es verschiedene Antworten. Der Amerikaner Edgar Bellamy, der kurz vor Morris ebenfalls eine erfolgreiche sozialistische Utopie veröffentlicht, sieht Arbeit als notwendiges Übel und die Lösung darin, ihre Quantität so viel wie möglich zu reduzieren. Nicht so Morris. Seine Philosophie ist optimistischer. Arbeit ist für ihn nicht nur etwas, das wir tun müssen, um zu leben, sondern ein Geschenk. Denn, so Morris, Arbeit kann Spaß machen und der Mensch kann Freude an seiner Arbeit finden – wenn man einige Dinge beachtet. Man sollte Arbeiten wählen, die den eigenen Fähigkeiten und Talenten entsprechen. Man sollte die Anzahl der Arbeitszeit auf ein angenehmes Maß reduzieren. Dann könne man auf jeden Fall Freude empfinden, sowohl während des Arbeitsvorgangs als auch am fertigen Produkt. Diese Philosophie der Arbeit ist überzeugend, ein Ideal nach dem zu streben sich lohnt. (Fußnote: Auch Morris gibt zu, dass manche Arbeiten niemals schön oder angenehm sein werden. Diese – monotonen, körperlich stark belastenden oder anderweitig widerstrebsamen – Tätigkeiten wie etwa Straßenreinigung oder Toilettenputzen sollen idealerweise weitestgehend von Maschinen übernommen werden.)
In dieser oftmals gelungenen Zeichnung einer schönen neuen Welt gibt es aber auch weniger schöne Flecken. Aus heutiger Perspektive wirkt zum Beispiel die Tatsache, dass alle Bewohner dieses Nirgendwo ausgesprochen gut und gesund aussehen, etwas gruselig. Einerseits stimmt es natürlich, dass physische Gesundheit und damit auch Erscheinung eines Menschen stark von seinen Lebensbedingungen abhängen. Die ausgemergelten, unterernährten und mit Kohlestaub geschwärzten Arbeiter, die Morris womöglich im Kopf hatte, waren wohl kein schöner Anblick. Darüber hinaus aber suggeriert der Text, dass sich der moralische Charakter eines Menschen in seiner Physiognomie spiegelt. Diese Vorstellung wurde im 18. Jahrhundert durch die Schriften Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe des Schweizers Johann Caspar Lavatar populär und im 20. Jahrhundert auf grausamste Weise für die Rassentheorie der Nationalsozialisten missbraucht.
Einen regelrechten Aussetzer scheint der Autor diesbezüglich gehabt zu haben, als er eine Figur ohne erkennbare ironische oder kritische Distanz Folgendes erzählen lässt: „Ehedem sollen viele mit einem ‘Faulheit’ genannten Erbübel behaftet gewesen sein, weil sie in grader Linie von Leuten abstammten, die in der bösen alten Zeit gewohnt gewesen waren, andere für sich arbeiten zu lassen--von jenen Leuten, die man in den Geschichtsbüchern Sklavenhalter oder Arbeitgeber nennt. Diese faulheitbehafteten Leute nun füllten zu Anfang unserer Epoche ihre ganze Zeit damit aus, in den Läde zu bedienen, da sie zu anderen Dingen kein Geschick hatten. Und ich glaube sogar, daß man sie eine Zeitlang tatsächlich zwang, irgendwelche Arbeit zu verrichten, weil sie und die Frauen sonst zu häßlich wurden und zu häßliche Kinder bekamen, so daß die Nachbarn es nicht länger mitansehen konnten. Glücklicherweise sind diese Zeiten vorbei.“ Man sollte dagegen halten: Glücklicherweise sind die Zeiten vorbei, in denen man solche abstrusen Beziehungen zwischen dem Aussehen und dem Inneren einer Person behaupten und dafür von einem Menschen mit Verstand ernst genommen werden kann. Hoffentlich!
Während manche Stellen in diesem Mittelalteridyll ideologisch hässlich sind, bleiben andere ganz leer. Zum Beispiel können die Nachrichten von Nirgendwo nicht umfassend erklären, wie die Gesellschaft wirtschaftlich und politisch genau funktionieren soll. Es gibt zwar einen längeren Teil in der Mitte des Buchs, in dem William Guest anhand eines für Utopien typischen Fragenkatalogs einen Bewohner diese neuartigen Landes über dessen Gepflogenheiten befragt, die Antworten sind jedoch oft lückenhaft. Das ist schade, denn die Fragen sind wahnsinnig spannend! Wie funktioniert eine Gesellschaft ohne Geld? Kommt es wirklich nie zu Hungersnöten oder Mangelerscheinungen? Gibt es keine Streitigkeiten, wenn plötzlich viel weniger für alle da ist, und einer findet, er habe doch mehr verdient als der andere?
In Morris’ Utopie sind die Menschen furchtbar vernünftig, bescheiden und am Gemeinwohl orientiert, manchmal in geradezu lächerlichem Ausmaß. Das ist doch unrealistisch!, protestiert da lautstark eine innere Stimme. Worauf eine andere antwortet: Genau, es ist ja auch eine Utopie. Ein schöner, guter, idealer Ort und gleichzeitig ein Nicht-Ort. Einer, der nur so schön und so gut sein kann, weil er nicht existiert. Für Nachrichten von Nirgendwo wählt Morris bewusst das Format einer Romanze und nicht das eines politischen Manifests, einer Abhandlung oder eines Essays. Morris hatte seine politischen Gedanken bereits in all diesen Medien geäußert, die Socialist League gegründet, im Commonweal, der Zeitschrift des Verbands, veröffentlicht und zahlreiche Vorträge gehalten. Aber Morris war überzeugt: Es reicht nicht, mit dem Verstand zu begreifen, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Man muss es fühlen. Und genau das will dieses Buch vermitteln: Das Lebensgefühl einer schöneren Welt.