Während Manesse im Rahmen seiner Bibliothek der Weltliteratur inzwischen jedes Jahr etwa 6 bis 12 Bücher herausgibt, waren es im ersten Jahr nur drei: 1944 eröffnet die Reihe mit Texten von Goethe, Tolstoi und Melville. Ursula Kampmann versteht die Entscheidung, je einen deutschen, russischen und amerikanischen Autor zu verlegen, als eine ausdrücklich politische Ansage, ein literarisches Zeichen gegen jedwede nationalistische Bestrebungen. Diese Lesart würde auf eine ganz bestimmte der vielen Bedeutungsebenen des großen amerikanischen Romans verweisen, jene nämlich, die mit dem grandiosen Scheitern von Kapitän Ahabs Jagd auf den weißen Wal zeigt, welch destruktive Züge das besessene Festhalten an einer Idee, einer überhöhten Vorstellung von etwas oder einem Ideal haben kann. Andererseits verortet man Herman Melville auch gleich ganz weit oben auf der Liste der großen Schriftsteller und charakterisiert ihn gewissermaßen als Nationaldichter Amerikas.
1851, zur Zeit der Erstveröffentlichung von „Moby-Dick“, teilt man diese Meinung ganz und gar nicht. Unter dem Titel „The Whale“ wird der Roman in drei Bänden erst in London, dann in New York veröffentlicht. Die englischen Kritiker sind verhalten bis positiv gestimmt, was allerdings daran liegen mag, dass in der englischen Ausgabe Passagen, die als Kritik an Monarchie oder Religion verstanden werden können, zensiert werden. In Amerika kann man mit dem 900 Seiten dicken Schinken zunächst nichts anfangen, der Stil des Werks ist zu neu, zu befremdlich. Erst in den 1890er Jahren erfährt „Moby Dick“ erste Anerkennung; seit den 1920ern ist er aus dem Kanon amerikanischer Klassiker nicht mehr wegzudenken. Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die erste vollständige deutsche Ausgabe, übersetzt von Fritz Güttinger. Der bekannte Schweizer Literaturkritiker, der etliche Bearbeitungen, Nachwörter und Übersetzungen in der Manesse Reihe übernommen hat, scheint eine Vorliebe für abenteuerliche Geschichten auf hoher See zu haben. So zählen auch Joseph Conrads „Meisterzählungen“ und Robert L. Stevensons „Schatzinsel“ zu den von ihm bearbeiteten Werken.
Gründe „Moby Dick“ zu lesen gibt es viele. Der Roman bietet den actiongeladenen Plot eines wahnsinnigen Schiffskapitäns, der einen verhassten Wal einmal um die Welt jagt und sich am Ende einen Kampf auf Leben und Tod mit dem riesigen Meeresungetüm liefert. Die Küste Neuenglands, bekannt für ihre lange Walfang Tradition, ein mit Walfischzähnen geschmücktes, kriegerisch anmutendes Schiff, ein einbeiniger Kapitän und furchterregend aussehende Seemänner wie der exotische, von Kopf bis Fuß tätowierte Südseeinsulaner Queequeg schaffen die passende Atmosphäre.
Gleichzeitig ist „Moby Dick“ aber auch ein gründlich recherchiertes Sachbuch zum Walfang im 19. Jahrhundert, ebenso wie eine großangelegte Studie des Wals, die mit einer, der Erzählung vorangestellten enzyklopädischen Sammlung beginnt. Dort findet sich in rund 80 Einträgen alles, was ein fiktives Schulmeisterlein in religiösen oder weltlichen Schriften über den Walfisch gefunden hat, von der Bibel über Shakespeare bis hin zu Thomas Hobbes, Thomas Cook und Thomas Jefferson. Damit fächert die Walfischenzyklopädie das gesamte Spektrum inhaltlicher und sprachlicher Bezüge und Anspielungen auf, die im Roman enthalten sind. Die unglaubliche Dichte von Metaphern und Symbolen, sowie von intertextuellen Bezügen zu literarischen, biblischen, mythologischen, politischen und philosophischen Schriften erlaubt es, den Roman auf unzählige Weisen allegorisch zu deuten. Hier geht es um Mensch gegen Natur, um Individuum und Staat, um Gott und religiösen Fanatismus, Amerikas puritanische Wurzeln und versteckte Homoerotik zugleich. Und damit sind vermutlich nicht einmal die Hälfte aller möglichen Lesarten genannt…