Joseph Conrad (1857-1924) wird als Józef Teodor Konrad Korzeniowski in der heutigen Ukraine geboren, damals ein polnisches Gebiet unter russischer Herrschaft. Obwohl Polnisch seine Muttersprache ist und er früh im Leben ausgezeichnet Französisch lernt, schreibt er seine großen Romane und Erzählungen später auf Englisch und gilt seither als einer der einflussreichsten englischen Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts.
In seinem Leben kennt er zwei große Leidenschaften: die Seefahrt und das Schreiben. Fast 20 Jahre fährt Conrad zur See, heuert auf französischen und britischen Handelsschiffen an. Auf dem Nährboden dieser Lebenserfahrung wachsen viele seiner Romane und Kurzgeschichten, in denen die See häufig eine zentrale Rolle einnimmt. So auch in den von Manesse zusammengestellten Novellen. Die enge Verknüpfung mit seinem Leben zeigt sich in „Die Tremolino“, die, laut Fritz Güttinger, keine Erzählung, sondern „ein Stück Autobiographie“ ist. Auch „Die Lachmöwe“ integriert Conrads Aufenthalte auf den malaiischen Inseln und „Das andere Ich“ thematisiert, wie sich ein junger Kapitän in seine Rolle in der Schiffshierarchie einfindet.
Dass die enge konzeptuelle Verknüpfung – bis hin zur Verwechslung – von historischem Autor und seinem Werk nicht unproblematisch ist, zeigt sich an seiner wohl bekanntesten Erzählung „Herz der Finsternis“. Kaum ein anderes literarisches Werk hat im späteren 20. Jh. derartige Kontroversen ausgelöst. Der Roman lässt den britischen Seemann Marlow von einer abenteuerlichen wie schrecklichen Expedition im Kongo erzählen, die fiktive Zuhörer wie Leser gleichermaßen in ihren Bann zieht. Die Reise führt Marlow immer tiefer in den afrikanischen Kontinent, den undurchdringlichen Dschungel, das sinnbildliche „Herz der Finsternis“. In der Begegnung mit der kolonialisierten schwarzen Bevölkerung dieses fremden Kontinents begegnet der weiße Westler auch sich selbst, im Angesicht des „bestialischen Andern“ wird er auf seine eigene animalische Natur zurückgeworfen. In einer ausgefeilten Metaphorik aus Licht und Dunkel erforscht Conrads meisterhafte Erzählung die Legitimität des Imperialismus, sowie Narrative der Zivilisation und des Fortschritts.
Sein eigenwilliger Satzbau ist dabei oft kryptisch, seine Worte nicht zu fassen, nie vollständig zu (be-)greifen, genau wie die Metapher des „Herz der Finsternis“. Diese Komplexität und Ambiguität sei von einmaliger Schönheit und erhebe Conrad verdientermaßen in den Rang der Weltliteratur, sagen die einen. Andere Stimmen jedoch verurteilen das Werk aufs Schärfste für sein rassistisches Weltbild, das nicht allein durch schöne Worte getilgt werde. Spätestens seit der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe 1975 seine inzwischen berühmte Vorlesung zu Rassismus in Herz der Finsternis hielt, wird heftig debattiert: War Conrad ein Rassist oder war er es nicht? Sollte ein großer Autor über den Werten und Weltanschauungen seiner Zeit stehen oder ist es unmöglich genau das zu verlangen? Kann Literatur als Kunst geschätzt werden, auch wenn sie rassistische Inhalte hat? Beide Standpunkte haben ihre Berechtigung. Eine Stimme wie die Chinua Achebes, der sich nicht von einem Roman seine Menschlichkeit absprechen lassen will, muss gehört werden. Aber auch Hanna Arendt hat vielleicht nicht ganz Unrecht, wenn sie findet, dass Literatur wie die Conrads besser geeignet sei die Schrecken von Rassismus und Imperialismus erfahrbar zu machen als gewöhnliche historische oder politische Schriften.