Was ist real? Der Schreibtisch, an dem wir sitzen? Wo wir früher Akten studierten und heute E-Mails beantworten? Oder ist es unsere Freizeit, in der wir uns in andere Welten träumen? In der wir uns von Filmen, Fernsehen und Büchern verzaubern lassen? Sind wir wirklich nur ein Sachbearbeiter oder eine Sprechstundenhilfe? Steckt in uns nicht ein Dschungelheld oder wenigstens ein Superstar?
Solche Zerrissenheit zwischen dem gewöhnlichen Alltag und der ersehnten Welt, ist nicht neu. Wer die Novellen und Romane von E. T. A. Hoffmann liest, wird genau die gleiche Zerrissenheit erleben. Die Meistererzählungen bieten Einblick in Hoffmanns Gedankenwelt. Der Herr Anselmus aus dem „Goldenen Topf“ zum Beispiel, der da in Dresden sein Studium absolviert, ist völlig verloren, wenn es darum geht, die Dinge des Alltags zu bewältigen. Er stößt gefüllte Körbe und Porzellantassen um, kommt ständig zu spät und an seinem Frack ist immer ein Knopf zu wenig und ein Fleck zu viel.
Und doch träumt dieser Anselmus von einer geheimnisvollen Welt, in der er die Kunst in ihrer unverfälschtesten Form genießen darf. Es ist eine Welt, in der Frauen keine Körper haben, sondern liebliche Schlänglein sind, deren Stimmen wie Glocken tönen.
Die 16-jährige Veronika, die höchst irdisch darauf hofft, eine Frau Hofrat zu werden und entzückende Ohrgehänge zu besitzen, nimmt mit der Schlange Serpentina den Kampf um Anselmus auf. Sie verliert, und Anselmus darf sich mit Serpentina in der Anderwelt niederlassen.
Zu gerne hätte wohl der Autor das Schicksal seines Protagonisten Anselmus geteilt. Denn auch E. T. A. Hoffmann träumte von einer anderen Welt, in der er malen, dichten oder komponieren hätte dürfen. Als studierten Juristen schätzte man ihn. Immerhin legte er im März 1800 sein drittes Examen der Jurisprudenz ab und wurde Preußischer Regierungsrat. Eine ehrenwerte Stellung! Ein regelmäßiges Gehalt! Gesellschaftliche Achtung! Was ein E. T. A. Hoffmann so gar nicht so schätzen wusste.
Er verabscheute die Eitelkeit der Welt und im Besonderen die preußische Bürokratie mit all ihren unfähigen Vorgesetzten. In Klein Zaches, genannt Zinnober, machte sich E. T. A. Hoffmann Luft. Sein Klein Zaches ist ein Wechselbalg, der selbst abgrundtief hässlich ist. Doch eine Fee verleiht ihm die Gabe, für schön und wohlerzogen gehalten zu werden. Ja, jede Tat, die in seiner Gegenwart vollbracht wird, wird ihm von allen Anwesenden zugeschrieben. So macht Klein Zaches Karriere. Er wird Minister, erhält den Orden vom grüngefleckten Tiger mit zwanzig Knöpfen, und erst kurz vor der Hochzeit mit der Geliebten seines Gegners Balthasar, kann letzterer ihm die Haare vom Kopf reißen und so den Bann brechen.
Die Geschichten von E. T. A. Hoffmann sind so verstörend, weil in ihnen die reale Gegenwart mit einem irrealen Irgendwo verschmilzt. Die Schichten der Wirklichkeit existieren neben-, über- und durcheinander. Nur derjenige, der offen dafür ist, kann die wunderbaren Dinge der Anderwelt sehen.
E. T. A. Hoffmann brauchte immer mehr Alkohol, um seine Realitäten zu bewältigen. Trotz großer Erfolge als Autor, war es ihm nicht gegeben, zufrieden oder gar glücklich zu leben. Er starb – ob nun an Syphilis oder Amyotropher Lateralsklerose – am 25. Juni 1822 mit nur 46 Jahren. Sein Werk lebt weiter und ist uns an Fantasy-Literatur geschulten Lesern heute näher als je zuvor.