Wenn Schüler heute mit kariertem Schulheft, Geodreieck und Zirkel über die Konstruktion geometrischer Formen grübeln, dann stehen sie in einer Tradition, die weit ins Mittelalter zurückreicht: Schon in den Klosterschulen gehörte die Geometrie Euklids zum Lehrplan.
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Wie vermittelt man die Grundlagen der Geometrie?
Wir kennen heute den „Lehrplan“, den alle Klosterschüler durchliefen, als die sieben freien Künste: Grammatik, Rhetorik und Dialektik in der Grundstufe, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie in der Oberstufe. Dieser Wissenskanon galt bis weit in die frühe Neuzeit als verbindlich. Er war die Grundlage für jeden Studenten, der sich an einer Universität einschreiben wollte.
Das wichtigste Lehrbuch im Fach Geometrie stammte aus der Feder des griechischen Mathematikers Euklid. Seine „Elemente“ beherrschten das Fach bis zum Jahr 1830(!) derart, dass wir die Geometrie bis zur dritten Ebene - also Linie / Quadrat / Würfel - immer noch als euklidische Geometrie bezeichnen.
Dabei wissen wir über den historischen Euklid nicht allzu viel. Er dürfte um das 4./3. Jahrhundert v. Chr. am Museion im ägyptischen Alexandria gewirkt haben. Nicht einmal seine Lebensdaten stehen fest. Er könnte um 360 v. Chr. in Athen geboren worden sein und seine Ausbildung an Platons Akademie erhalten haben, oder er verfasste seine Werke erst um 300 v. Chr. und starb um 270 v. Chr.
Doch seine Lebensgeschichte ist für unsere Zwecke völlig irrelevant. Es ist sein Buch, die „Elemente“, das im Mittelalter Karriere machte. Es beschäftigt sich ausgehend vom Punkt mit der Konstruktion von Linien und Körpern und fasste damit das geometrische Basiswissen für jeden zusammen, der den Bauplan für eine Kirche entwerfen wollte. Quadrate und Kreise nebeneinander oder übereinander geschichtet waren Jahrhunderte lang die Formen, mit denen Baumeister Gebäude konstruierten. Deshalb standen die Elemente von Euklid in hohen Ehren. In jeder besseren Klosterbibliothek existierte mindestens eine Handschrift.
Was die Mathematik mit Gott verbindet
Nun lasen unsere Mönche mit der gleichen Begeisterung Euklid, mit der sie auch die Werke der antiken Kirchenväter rezipierten. Und die beschäftigten sich ebenfalls mit der Mathematik. Denn vieles übernahmen Augustinus & Co. von Platon und Pythagoras - ja, genau, von dem Philosophen, nach dem der bekannte Satz benannt wurde. Deshalb fand sowohl die Formel a2+b2=c2 Eingang in die christliche Erziehung, als auch Platons Behauptung, dass die Geometrie zur „Erkenntnis des ewig Seienden“ führe. Platon sah in perfekten Kreisen und Quadraten das Göttliche, während er die keinen geometrischen Regeln unterliegenden Gegenstände der materiellen Welt für einen matten Abglanz vom Licht der gleißenden Ideen hielt.
Damit inspirierte er prachtvolle Kirchen, die nach streng geometrischen Regeln errichtet wurden. Der Kreis galt als Abbild des Himmels, als Symbol dafür, dass sich dieser um Gottvater drehe, genauso wie der Kreis um den Punkt gezogen wird. Das Quadrat dagegen stand für die Erde mit ihren vier Himmelsrichtungen. Wenn ein Architekt also mit Hilfe der bei Euklid gelernten Methoden die quadratische Vierung einer Kathedrale mit einer über einem Kreis konstruierten Kuppel überwölbte, dann war das die Stein gewordene Botschaft, dass der Gläubige von der irdischen Welt in den Himmel aufzusteigen in der Lage war.
Mathematik wird chic
Jahrhundertelang war die Geometrie für die Architekten existentiell und spielte trotzdem im Leben der anderen Menschen eine ähnlich unwichtige Rolle, wie sie es heute noch tut: Man lernt die Konstruktion eines gleichschenkligen Dreiecks in der Schule und vergisst sie dann so bald wie möglich. Welchen Grund gäbe es schon in einem normalen Durchschnittsleben, ein gleichschenkliges Dreieck zu konstruieren?
Doch dann adaptierte das Abendland irgendwann zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance die arabischen Zahlen. Sie ermöglichten völlig neue Formen des Rechnens, und damit wurde die Mathematik auf einmal etwas, über das viele Intellektuelle sprachen und schrieben. Es war chic, in der Lage zu sein, schwierige mathematische Probleme zu lösen. Fürsten hielten sich begabte Mathematiker und begannen, sich selbst mit der Mathematik zu beschäftigten. Man unterhielt sich bei Gesellschaften und in Briefwechseln damit, dem Gegenüber ein möglichst kompliziertes mathematisches Problem vorzulegen, und dann demjenigen zu applaudieren, der es aufzulösen verstand. Humanisten und Künstler, die das Interesse eines Mäzens auf sich lenken wollten, taten also gut daran, zumindest die Grundzüge der Mathematik zu beherrschen.
Besonders hart dürfte die Konkurrenz um potente Mäzene zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Florenz gewesen sein, wo eine Reihe von hervorragenden Künstlern um gut bezahlte Projekte buhlten. Einer von ihnen war Filippo Brunelleschi (1377-1446). Er verblüffte die Florentiner Kunstwelt im Jahr 1410 mit einer Attraktion: Er schuf ein perspektivisch korrektes Bild vom Baptisterium, indem er sich zum ersten Mal seit der Antike der Linearperspektive bediente. Ein Betrachter soll damals, wie uns Vasari überliefert, nicht in der Lage gewesen sein, einen Unterschied zwischen dem Spiegelbild des Baptisteriums und Brunelleschis gemaltem Bild zu finden.
Und was hat nun Euklid damit zu tun?
Die Inspiration zu seinem innovativen Bild verdankte Brunelleschi Euklids Werk mit dem Titel Optika (= Optik). Darin beschreibt der griechische Mathematiker seine Theorie über das Sehen. Es dreht sich um die Frage, wie ein Auge seine Umgebung wahrnimmt. Für Euklid senden alle Gegenstände Sichtstrahlen aus, die in Form eines Kegels auf das Auge treffen. Er formulierte seine Hypothese als ein geometrisches Problem, indem er die Einfallswinkel der Strahlen aufs Auge berechnete.
Sein Sichtkegel ist nach streng geometrischen Grundsätzen aufgebaut: Was näher ist, scheint uns wegen des engeren Sichtkegels größer, was weiter entfernt ist, wirkt kleiner. Euklid lieferte Brunelleschi mit seiner Schrift Optika die theoretischen Grundlagen dafür, auf Grund mathematischer Gesetze zu konstruieren, wie er das Baptisterium zeichnen müsse, um es trotz des flachen Untergrundes dreidimensional wirken zu lassen.
Euklids Optik, die Erfindung der Perspektive und ihre Anwendung
Das erste uns erhaltene Gemälde, das gemäß Euklids Linearperspektive konzipiert wurde, ist ein Fresko des Florentiner Künstlers Masaccio. Die Kassetten des Tonnengewölbes verkleinern sich systematisch entlang der Fluchtlinien von vorne nach hinten. Das Bild bringt die Perspektive ins Spiel. Generationen von Künstlern sollten sich an der Beherrschung der Perspektive abarbeiten und sie zu immer neuen Höhenflügen führen. Glanzpunkt dieser Entwicklung sind die Freskos des Rokoko. Meistern ihrer Kunst gelang es, mittels der virtuos angewandten Gesetze der Perspektive auf einer praktisch flachen Kirchendecke einen Blick in den nach oben offenen Himmel darzustellen.
Die Grundlage für all das, war Euklid. Durch ihn wurden Geometrie und Malerei zu zwei Seiten einer Münze. Nach Massacio kam kein Künstler, der für modern gelten wollte, um ausgedehnte mathematische Studien herum. Und das hatte für ihren Stand einen angenehmen Nebeneffekt: Vorbei waren die Zeiten, als die Malerei als reines Handwerk galt. Nun stand die Theorie im Mittelpunkt, und das mit allen sozialen Folgen. Der Künstler kletterte die gesellschaftliche Leiter nach oben. Es öffnete sich ihm der Zugang zum Fürstenhof. Er diskutierte als Gleichrangiger mit Humanisten, Politikern und Höflingen. Wobei gerade die Höflinge alles andere als erfreut waren über die neue Konkurrenz.
Wie schwer sie den Eindringlingen das Leben machten, illustriert eine Anekdote aus dem Leben von Leonardo da Vinci: Er war zu Gast am Hof des Ludovico Sforza und forderte geradezu von ihm die Gelegenheit, im gelehrten Rededuell – ja, so etwas gab es damals, und es war richtig beliebt - seine Bildung zu zeigen. Im Februar des Jahres 1498 kamen alle Mitglieder des Hofes von Ludovico Sforza zusammen, um zu sehen, wie sich dieser uneheliche Sohn eines kleinen Advokaten aus Vinci gegen die hochlöblichen Adligen und studierten Doktoren der Universitäten schlagen würde. Natürlich ging Leonardo als Sieger aus diesem Rededuell hervor, auch weil er einen guten Mathematiklehrer gehabt hatte.
Sein Freund Luca Pacioli gehört nämlich zu den größten Mathematikern seiner Zeit. Von ihm lernte Leonardo da Vinci die Gesetze der Perspektive, die er in seinem späteren Leben so meisterhaft anwenden sollte. Die beiden Genies tauschten sich sowohl über Fragen der Kunst als auch über mathematische Probleme miteinander aus, und die gemeinsame Frucht ihrer Überlegungen floss in das 1509 veröffentlichte Buch „De divina proportione“ (= Über die göttlichen Verhältnisse) ein. Leonardo da Vinci illustrierte höchstpersönlich den von Luca Pacioli verfassten Text über den Goldenen Schnitt.
Dass die „Elemente“ des Euklid mit ihrer Grundlagenforschung zur Geometrie für Pacioli „elementar“ war, bringt ein 1495 entstandenes Porträt auf den Punkt: Die Hand des genialen Mathematikers ruht beim Entwerfen einer geometrischen Figur auf den Schriften Euklids.
Der Basler Euklid
Bald sprachen nicht mehr nur die italienischen Künstler über die Bedeutung von Euklid. Seine Werke wurden auch jenseits der Alpen zur Pflichtlektüre. Albrecht Dürer war ein wichtiges Glied in der Kette des Wissenstransfers. Ihm wird der zweite Teil unseres Essays „Mathematik: Die Königin der Wissenschaft“ gewidmet sein.
Der Basler Verleger Johann Herwegen witterte ein hervorragendes Geschäft und publizierte 1537 eine Gesamtausgabe der Werke des griechischen Mathematikers. Sie enthält weit mehr als die seit dem Mittelalter bekannten Elemente. Der Käufer erhielt zusätzlich die für Künstler so wichtige Optik und einige weitere kleinere Schriften des großen Mathematikers, die uns an dieser Stelle nicht zu interessieren brauchen. Auf jeden Fall freut sich das MoneyMuseum, dass es ihm auf der Stuttgarter Antiquariatsmesse 2020 gelungen ist, ein Exemplar beim Salzburger Antiquariat Johannes Müller zu erwerben.
Wieso schreibt ein Reformator ein Vorwort zu Euklid?
Die im MoneyMuseum aufbewahrte Ausgabe des Euklid von 1537 ist etwas ganz Besonderes, denn der bekannte protestantische Theologe und Weggefährte Martin Luthers schrieb ein Vorwort dazu. Das sollte uns nicht verwundern: Das Interesse von humanistischen Wissenschaftlern und Theologen an der Mathematik war enorm. Sie fühlten sich vor allem von der jüdischen Kabbalistik inspiriert. Ziel der Kabbala ist es, die Buchstaben der Bibel in Zahlenwerte umzusetzen, um durch komplizierte mathematische Berechnungen Einsicht in Gottes Plan zu erhalten. Das leuchtete – zumindest damals – auch protestantischen Theologen ein, die davon ausgingen, dass das Ende der Welt nahe sei.
Ein persönlicher Freund Martin Luthers, der Pfarrer Michael Stifel, war für seine Versuche bekannt, das Datum des Weltuntergangs mittels der Mathematik zu berechnen. Er fixierte es auf die 8. Stunde des 19. Oktober 1533. Und als die Welt dann doch nicht unterging, nahm er an der Universität von Wittenberg das Studium der Mathematik auf, um zu einem der bedeutendsten deutschen Mathematiker zu werden. Melanchthon verfasste zu seiner Arithmetica Integra genauso ein Vorwort wie er es für unsere Neuausgabe des Euklid tat. Schließlich war es ihm ein Herzensanliegen, mit seiner wissenschaftlichen Autorität die Belange der Mathematik zu fördern. Es dürfte zum Beispiel Melanchthon zu verdanken gewesen sein, dass die Universität Wittenberg überhaupt Lehrstühle für das Fach Mathematik besaß.
Eines hatte der Basler Verleger Johann Herwegen allerdings nicht in Betracht gezogen: Melanchthon war durch sein vehementes Eintreten für die Reformation in der wissenschaftlichen Welt umstritten. Und das bedeutete, dass kein katholischer Gläubiger, geschweige denn eine katholische Bibliothek ein Buch kaufen wollte, in dem das Vorwort eines Reformators abgedruckt war. Die nächsten Ausgaben des Euklid sollten ohne dieses Vorwort publiziert werden und sich weit besser verkaufen.