Malthus: Wie ein Reicher angesichts der Armut gut schlafen kann
Warum gibt es Armut, und wie können wir sie beseitigen? Diese Frage beschäftigte um 1800 alle Engländer, die das Elend in den Armutsvierteln der Industriestädte sahen. Der junge Malthus fand darauf seine eigene Antwort. Er schrieb, dass die Reichen die Armut nicht beseitigen könnten. Denn der Grund für die Armut sei der Arme selbst.
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Der soziale Hintergrund von Thomas Robert Malthus
Nein, es ist nicht überraschend, dass Thomas Robert Malthus zu denen gehörte, die nie in ihrem Leben hungern mussten. Er wurde 1766 als sechstes von sieben Kindern in eine der reichsten Familien Großbritanniens hineingeboren. Seine Mutter war die älteste Tochter des königlichen Apothekers, ein Amt, das ihr Vater von seinem Vater geerbt hatte. Ein königlicher Apotheker drehte nicht nur Pillen. Mit diesem Amt war die gesamte Versorgung der britischen Armee mit Arzneimitteln verbunden. Und damit ließ sich hervorragend Geld verdienen! Henrietta Catherine Graham, die Mutter von Malthus, brachte ihrem Manne also eine gewaltige Mitgift in die Ehe. Als ob Daniel Malthus diese Mitgift überhaupt gebraucht hätte!
Denn auch Vater Malthus war reich. Als einziger Sohn erbte er das gesamte Familienvermögen seines Vaters Sydenham Malthus. Arbeiten? Aber nicht doch. Daniel Malthus vertrieb sich die Zeit mit seinen literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen. Er war gebildet, hatte am Queen’s College in Oxford studiert. Natürlich ohne einen Abschluss zu machen. Wofür denn auch? Sein Reichtum sicherte ihm sowieso die Aufmerksamkeit der wichtigsten Denker seiner Zeit. Jean-Jacques Rousseau und David Hume schätzten sich glücklich, zu seinen Freunden zu gehören.
Die Ausbildung von Thomas Robert Malthus
Jean-Jacques Rousseau? David Hume? Für ein Mitglied der englischen Aristokratie waren diese Freundschaften ziemlich exzentrisch. Thomas Robert Malthus hatte also das Glück und gleichzeitig das Problem, einen sehr unkonventionellen Vater zu haben, der sich einen genauso unkonventionellen Sohn wünschte.
Daniel Malthus sah sich als Aufklärer, träumte von einer besseren Zukunft. Er glaubte wie so viele seiner Zeitgenossen, dass die Welt nur aus einem einzigen Grund nicht besser ist: Weil es ihren Bewohnern an Bildung fehlt. Und deshalb sollte sein Sohn genau diese Bildung erhalten, und zwar bei den aufgeklärtesten Lehrern und Tutoren, die für Geld zu haben waren.
Dabei wäre der kleine Thomas vielleicht viel lieber im Hintergrund geblieben. Er litt unter dem Stigma einer Hasenscharte und eines Wolfsrachens, hatte also Mühe, deutlich zu artikulieren. Kein guter Start in die gnadenlose Welt der britischen Oberschichts-Internate. Doch Thomas musste mit 16 Jahren auf eine angesagte Public School. Public Schools waren auch damals alles andere als „öffentlich“. Ihr Besuch kostete immens viel Geld. Dafür machten sie aus weichen Muttersöhnchen harte Männer, wie sie das British Empire brauchte.
Papa Malthus wählte für seinen Sohn die Warrington Academy, ein Internat, das systematisch den Widerstand gegen Staat und Anglikanische Kirche förderte. Warrington gilt heute als Wiege des Unitarianismus, einer Glaubensrichtung, die die heilige Dreifaltigkeit und die Vorstellung einer göttlichen Natur Jesu ablehnte.
Warum das wichtig ist? Nun, warten Sie noch ein bisschen!
Warrington musste 1783 schließen. Doch Papa Malthus entschied, dass Tutor Gilbert Wakefield seinem Sohn Privatunterricht geben sollte. Auch Wakefield war ein begeisterter Aufklärer und ein noch größerer Feind der anglikanischen Kirche, dessen bissige Pamphlete in späteren Jahren die englische Gesellschaft spalten sollte.
1784 wurde Thomas nach Cambridge geschickt. Und auch da dürfte der Herr Papa die Strippen gezogen haben, um William Frend als Tutor für Thomas zu gewinnen. Frend war ein radikaler Sozialreformer und – oh Überraschung – ebenfalls ein vehementer Gegner der Church of England.
1788 schloss Thomas Robert Malthus sein Studium mit dem Bachelor ab. 1789 trat er als Vikar in den Dienst der Church of England – und das obwohl ihn Familie und alle seine Lehrer Jahre lang zu einem Feind dieser Institution erziehen wollten.
Der Fortschrittsglauben der Aufklärung
Wir sollten das Buch, das den Weltruhm von Malthus begründen sollte, auch auf diesem Hintergrund sehen, also als eine Absage an all das, was man ihm viele Jahre lang hatte aufdrängen wollen. Es erschien 1798 und trug ursprünglich den Titel Principle of Population, as it affects the Future Improvement of Society with remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers, was übersetzt heißt Das Prinzip der Bevölkerung und wie es die zukünftige Verbesserung der Gesellschaft beeinflusst, mit Bemerkungen zu den Spekulationen von Mr. Godwin, Mr. Condorcet und anderen Schriftstellern.
Der Titel ist vielsagend! Thomas Robert Malthus wollte in seinem Werk keine bahnbrechende neue Theorie entwickeln. Er widersprach damit zunächst den ewig gleichen Tiraden seines Vaters, indem er dessen Lieblingsautoren widerlegte. Sowohl William Godwin als auch Nicolas de Condorcet hatten ein Werk verfasst, das sich mit dem Fortschritt der Menschheit beschäftigte. Beide Werke wurden in der gebildeten Welt viel diskutiert und von Anhängern der Aufklärung gefeiert. Wir müssen uns also erst mit ihren Büchern auseinandersetzen, ehe wir zu Malthus kommen.
Condorcet und die Fortschrittsgläubigkeit
Der Aufklärer Condorcet – mit vollem Namen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet (1743-1794) – war eigentlich ein Mathematiker, der die besondere Förderung des französischen Finanzministers Anne Robert Turgot genossen hatte. Er war bereits verstorben, als seine Ehefrau 1795 sein hinterlassenes Hauptwerk publizierte. Der Originaltitel lautete Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain. Ins Deutsche übersetzt in etwa Skizze zu einem historischen Bild des Fortschritts des menschlichen Verstands.
Der Einfluss dieses Werks auf unser Denken kann kaum überschätzt werden. Denn Condorcet machte die Vorstellung, dass sich die Menschheit in einem ständigen Prozess der Vervollkommnung befände, zu einer allgemein anerkannten Tatsache. Er behauptete, dass dieser Fortschritt unaufhaltbar sei. Denn je besser wir die naturwissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Hintergründe der Welt verstehen, umso kompetenter werden unsere Entscheidungen ausfallen und umso besser die Resultate sein. Der aufgeklärte Mensch trifft mit geradezu schlafwandlerischen Sicherheit die richtige Entscheidung, um die Gesellschaft zu bessern. Und so wird die Welt irgendwann zum Himmel auf Erden. Mit anderen Worten: Armut ist ein Symptom einer nicht aufgeklärten Gesellschaft. Religion ist überflüssig, weil der Mensch selbst in der Lage ist, das Paradies zu schaffen.
William Godwin, der Anarchismus und die direkte Demokratie
William Godwin ist heute eher als Vater der Autorin von Frankenstein bekannt. Seine Ehe mit der international berühmt-berüchtigten Feministin Mary Wollstonecraft hat das öffentliche Interesse auf sein unkonventionelles Leben gelenkt, wobei Godwin eigentlich ein Gegner von Ehe und Familie war. Er forderte vom Staat, die Erziehung aller Kinder zu übernehmen, um sie zu aufgeklärten Bürgern zu machen. Die Notwendigkeit der Ehe sollte so entfallen. Schöne neue Welt.
1793 publizierte William Godwin sein Hauptwerk. Das Datum ist wichtig, denn es beweist, dass Godwin auf dem Hintergrund der Geschehnisse der französischen Revolution seine Theorie vom idealen Staat formulierte. Das Buch trägt den Titel An Enquiry concerning Political Justice and its Influence on General Virtue and Happiness, übersetzt Eine Recherche hinsichtlich politischer Gerechtigkeit und ihres Einflusses auf die allgemeine Moral und das Glück.
Darin entwickelt Godwin eine anarchistische Staatstheorie, weswegen man ihn auch als den ersten Anarchisten bezeichnet. Godwin argumentiert, dass die staatlichen Institutionen den Fortschritt eher behindern als fördern. Auch er postuliert, dass jeder aufgeklärte Mensch ausschließlich rationale und richtige Entscheidungen treffen wird. Deshalb sind seiner Meinung nach in der vollständig aufgeklärten Gesellschaft keine Obrigkeiten mehr notwendig. Alle Entscheidungen können gemeinsam von den direkt Betroffenen getroffen werden. Doch bis das paradiesische Endziel einer direkten Demokratie erreicht ist, müssen erst all die anderen politischen Systeme durchlaufen werden, von der absoluten Monarchie über die Herrschaft der Aristokratie bis zur Plutokratie. Bei all diesen Staatssystemen handelt es sich selbstverständlich um mehr oder weniger schlechte Zwischenstufen, ehe der Fortschritt der Menschheit Freiheit und Glück bringen wird.
Ein Gespräch zwischen Vater und Sohn
Man kann sich ziemlich gut vorstellen, dass die Ideen von Condorcet und Godwin den schwärmerischen Aufklärer Daniel Malthus faszinierten. Und man kann genauso gut imaginieren, dass Thomas Robert Malthus angesichts der Schrecken der Französischen Revolution die fortschrittsgläubigen Tiraden seines Vaters schlichtweg auf die Nerven gingen. Die Hungersnöte, die Inflation, die Nahrungsmittelknappheit, dazu die Hinrichtungen und die Tausenden von Toten der Kriege: Für den Sohn sah die Situation nicht so aus, als hätte die Revolution in Frankreich irgendetwas zum Positiven verändert.
Und so schrieb Thomas Malthus seine Studie zum Bevölkerungswachstum – und das teilt er uns selbst mit! – angeregt von einem Gespräch mit seinem Vater. Sein Buch wurde zu einem der einflussreichsten des 19. Jahrhunderts. Es führte all die hehren Fortschrittsträumen der Aufklärer ad absurdum. Und das passte genau zur Stimmung der Zeit. Malthus veröffentlichte 1798, also ein Jahr bevor Napoleon das Experiment der französischen Revolution für beendet erklärte und ganz Europa wieder zur politischen Normalität zurückkehrte.
Die Grenzen des Wachstums
Thomas Robert Malthus fragte sich, ob es wirklich nur die fehlende Aufklärung sei, die für die Armut in der Welt verantwortlich sei. Dafür griff er eine Idee Godwins auf. Der wollte, wie gesagt, die Sorge für die Kinder dem Staat anvertrauen, um sie auf Kosten der Allgemeinheit erziehen zu lassen. Malthus behauptete, dass das nicht zu einer besseren Gesellschaft führen würde, sondern nur zu wesentlich mehr Kindern.
Malthus sagte und belegte dies mit Zahlen, dass bessere wirtschaftliche Verhältnisse eine höhere Geburtenrate gerade in sozial schwachen Kreisen verursachen würden. Das Problem dabei sei, dass die Bevölkerung exponentiell wachse: Also, in einer Konjunktur überleben in zwei Familien je ein Kind mehr. Dieses Paar hat nun seinerseits vier Kinder, diese vier Kinder haben mit ihren Partnern sechzehn Kinder, diese sechzehn Kinder haben in der nächsten Generation 64 Kinder. Mit anderen Worten: In rund 100 Jahren sind aus den zwei zusätzlichen Menschen 64 Mäuler geworden, die zu stopfen sind.
Und dabei kann die Nahrungsmittelerzeugung nur prozentual steigen, also zum Beispiel um 10, 20% oder gar 50%. Aber diese prozentuale Steigerung ist es dann auch, sie verursacht ihrerseits keinen Zuwachs mehr.
Malthus formulierte seine Behauptungen als mathematisches Axiom, damals eine sehr neue Form der Beweisführung in der Wirtschaftswissenschaft. Das wirkte unglaublich überzeugend. Denn jeder konnte schwarz auf weiß sehen, dass die steigende Produktion an Nahrungsmitteln zur Geraden, das Bevölkerungswachstum zur Kurve wird, und damit beide Endpunkte immer weiter auseinanderklaffen, so dass die Hungersnot unvermeidlich ist.
Malthus folgerte, dass die fehlende Geburtenkontrolle der Armen schuld sei an den Verhältnissen. Es sei ihr eigenes Verhalten und nicht irgendeine Ausbeutung durch irgendwelche Kapitalisten, die die Armen in ihrer Armut festhalte. Deshalb sei jede Unterstützung der Armen absolut unsinnig, weil das nur in einem noch höheren Bevölkerungswachstum ausufere.
Malthus Hypothese wurde zum Paradigmenwechsel. Waren die Ökonomen vorher davon ausgegangen, dass mehr Menschen mehr Reichtum für ein Staatswesen bedeuteten, stellte Malthus erstmals die Frage nach der Grenze des möglichen Wachstums.
Und damit gab er gleichzeitig allen, die politisch nichts gegen die Armut unternehmen wollten, eine theoretische Begründung für ihr Tun. Wie Malthus im 19. Jahrhundert interpretiert wurde, fasst eine rund eine Generation später verfasste Geschichte der politischen Ökonomie zusammen: „Ein Mensch, sagte er, der in einer schon okkupierten Welt geboren wird, wenn seine Familie nicht die Mittel hat, ihn zu ernähren oder wenn die Gesellschaft seine Arbeit nicht nötig hat, dieser Mensch hat nicht das mindeste Recht, irgend einen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde. Bei dem großen Gastmahle der Natur ist durchaus kein Gedecke für ihn gelegt. Die Natur gebietet ihm abzutreten, und sie säumt nicht, selbst diesen Befehl zur Ausführung zu bringen.“ Zitiert nach Adolph Blanqui, Geschichte der politischen Ökonomie in Europa, 2. Band, Glashütten (1971), Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Karlsruhe (1841), S. 105f.
Die Folgen von Malthus
Geschichte bewegt sich oft in Wellen. Auf die Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution folgte die Resignation von Biedermeier und Restauration. Und in diesem Zusammenhang war Malthus genau das, was die Politiker brauchten, um ihre herzlosen Gesetze zur Beschränkung der Sozialausgaben zu begründen. So beruhte das 1834 in Großbritannien erlassene Armengesetz auf den von Malthus erarbeiteten Hypothesen. Es legte fest, dass arbeitsfähige Menschen nur dann Unterstützung erhalten sollten, wenn sie bereit waren, in einem Arbeitshaus zu arbeiten. Dessen Arbeitsbedingungen – und auch das wurde gesetzlich reguliert – mussten schlechter sein als die, die von Unternehmen der freien Wirtschaft geboten wurden. Damit wollte man vermeiden, dass ein Armer es sich auf Kosten des Staates bequem machte.
Natürlich fand diese radikale Position nicht nur Unterstützung. Einige wagten offene Kritik, so zum Beispiel Charles Dickens, wenn er Scrooge, Protagonist seines Christmas Carroll, die Bitte um milde Gaben für die Armen mit diesen Worten ablehnen lässt: „Ich wünsche, in Ruhe gelassen zu werden“, sagte Scrooge, „Da Sie mich nach meinen Wünschen fragen, Gentlemen, ist dies meine Antwort. Ich selber gebe mich zu Weihnachten keinen Lustbarkeiten hin und kann es mir nicht leisten, Müßiggänger zu Lustbarkeiten einzuladen. Ich unterstütze die von mir erwähnten Institutionen [Gefängnisse, Arbeitshäuser, Tretmühle und Armenfürsorge] – das kostet mich Geld genug. Wem es schlecht geht, der muss sich eben an diese Stellen wenden.“ „Viele können es nicht, und viele würden lieber sterben.“ „Wenn sie zu sterben vorziehen“, sagte Scrooge, „sollten sie es tun und so den Bevölkerungsüberschuss verringern.“
Malthus und seine These zur Überbevölkerung wird noch heute international diskutiert und hatte Auswirkungen, wie wir unsere Welt und ihre Möglichkeit wahrnehmen. Friedrich Engels und Karl Marx setzten sich ausführlich mit Malthus auseinander. Ob sie dabei eine deutsche Übersetzung des Werks benutzten? Die gab es bereits seit 1807. Dem MoneyMuseum ist es gelungen, von ein Exemplar der ersten deutschen Übersetzung beim Antiquariat Tresor am Römer zu erwerben.
Wenn heute Immigranten als eine Belastung für den Staat gelten und nicht wie früher als eine Bereicherung des Wirtschaftslebens, dann stehen die Ideen eines Thomas Malthus im Raum: Die Vorstellung, dass irgendwann so viele Menschen in einem Land sind, dass das Boot voll ist.