Es scheint auf den ersten Blick eine friedliche Szenerie zu sein, wie da zwei Männer gemeinsam an einem Tisch sitzen, um sich zu unterhalten. Doch der Schein trügt. Die Zeitgenossen, die diesen Holzschnitt genau studiert haben dürften, begriffen sofort, dass hier zwei Menschen eine Todsünde begingen. Sie übertraten das christliche Gebot des Wuchers und machten sich der Todsünde des Geizes schuldig.
Da steht links ein sehr reicher Mann. Das erkannte ein zeitgenössischer Betrachter sofort an der Kleidung. So einen Pelzkragen durfte nur die oberste Oberschicht einer Stadt tragen. In seiner rechten Hand hält er einen gut gefüllten Geldbeutel. Seine linke Hand verschiebt die Marken auf den Linien des Rechenbretts, um so zu eruieren, wie hoch die Summe ist, die er mit Hilfe des Gelds in seinem Beutel verdienen kann. Ihm gegenüber sitzt ein Mann in der Tracht eines Kaufmanns. Er legt seine rechte Hand auf das Hauptbuch, in das er gleich das Kapital eintragen wird, das der reiche Mann bei ihm gegen Zinsen hinterlegt.
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Das, was wir Sparen nennen
Das Titelbild zeigt also einen uns heute ganz normalen Vorgang: Da bringt ein Mann sein Kapital zur Bank, um es gegen Zinsen anzulegen. Das ist sparsam, vorausschauend und moralisch durchaus erwünscht. Die Bank erwirtschaftet damit einen Gewinn, indem sie es an diejenigen weiterverleiht, die es brauchen, um eine Investition zu tätigen. Heute wird kaum ein Haus gebaut, kaum ein Unternehmen gegründet, ohne dass am Anfang eine Bank steht, die das Geld ihrer Kunden nutzt, um damit Existenzen zu begründen.
Soweit so gut. Doch was für uns eine moralisch wertfreie Selbstverständlichkeit darstellt, wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts kontrovers diskutiert. Geld mit Kapital und ohne Arbeit zu verdienen, stand im 16. Jahrhundert im Kreuzfeuer der Kritik.
Die historische Situation
Um zu verstehen, warum diese Frage derart emotional diskutiert wurde, müssen wir uns die historische Situation in Erinnerung rufen. Wir stehen um 1500 an der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit. Vieles veränderte sich damals, und dazu gehörte vor allem die Kriegsführung. Hatte der mittelalterliche Herrscher dafür seine Vasallen aufgeboten, heuerte man an der Stufe zur Neuzeit professionelle Söldner an, die in der Lage waren, die modernen und teuren Kanonen zu bedienen. Maximilian I. (1486-1508) zum Beispiel begründete das Weltreich der Habsburger und machte dabei so hohe Schulden, dass er viele Städte seines Reichs meiden musste, weil er aus Geldmangel so oft die Zeche geprellt hatte, dass ihn kein Wirt mehr beherbergen wollte. Das lag nicht daran, dass Maximilian ökonomisch derart unfähig gewesen wäre, sondern daran, dass die Methoden der Steuererhebung sich nicht so schnell verändern ließen wie es die Kosten der Kriegsführung taten.
An dieser Stelle sprangen die reichen Kaufmannsfamilien ein. Sie liehen den Fürsten Geld, nicht gegen Zinsen, sondern gegen Privilegien. Die Fugger zum Beispiel wurden unter anderem deshalb so reich, weil ihnen die Tiroler Landesherren gegen immense Darlehen besondere Privilegien bei der Silber- und Kupfergewinnung in Schwaz zugestanden. Nun brauchten aber auch die Fugger flüssiges Kapital, um diese Darlehen aufzubringen, und das holten sie sich, indem sie die Einlagen ihrer Kunden verzinsten.
Die Fugger waren nur die besonders sichtbare Spitze des Eisbergs. Viele Bankhäuser agierten als Mittler zwischen den kleinen Leihgebern und den großen Kreditnehmern mit allen lukrativen Geschäftsmöglichkeiten. Luther selbst sah in der nächsten Umgebung die Folgen so eines Geschäfts. Albrecht von Brandenburg, finanzierte die Bestätigungsgebühr in Höhe von 20.000 Gulden, die bei seiner Ernennung zum Mainzer Erzbischof fällig war, über einen Kredit bei den Fuggern. Die erhielten dafür das Privileg, Ablässe in den Bistümern Albrechts zu verkaufen. Und dieser Ablasshandel war es ja, der Martin Luther zum Verfassen seiner 95 Thesen motivierte.
Seine Ideen wären nicht so erfolgreich gewesen, wäre die ökonomische Situation im Jahr 1517 eine andere gewesen. Wie gesagt, die Wirtschaft veränderte sich damals rasant. Und gerade die kleinen Leute spürten die Veränderungen, die ihnen die bürgerliche Gewinnoptimierung bescherte. Wer auf Rentabilität und Kosteneffektivität achten musste, war nicht mehr in der Lage, einen gleichbleibenden Preis zu zahlen, sondern musste sich an den Notwendigkeiten des Marktes orientieren. Das bedeutete, dass gerade die einfachen Kleinunternehmer unter einen wirtschaftlichen Druck gerieten, wie sie ihn seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten. Die Kaufleute nahmen ihnen ihre Waren nicht mehr zum "gerechten", also zum alten Preis ab, sondern zu einem marktgerechten Preis. Die bedrängten Produzenten mussten zusehen, wie die Kaufleute mit dem Handel der von ihnen hergestellten Produkte reich wurden, während sie selbst immer weniger verdienten.
Dazu kamen neue Formen von Steuern. Alle Obrigkeiten suchten nach effektiven Möglichkeiten, ihren Haushalt zu finanzieren. Den Fernhandel besteuerten sie mit hohen Zöllen, die ein tüchtiger Kaufmann natürlich in den Verkaufspreis einberechnete. Die kleinen Händler des lokalen Markts zahlten ihre regelmäßige Abgabe über eine Münzverrufung. Sie mussten ihr Geld von Zeit zu Zeit gegen neues eintauschen, das nominell zwar genauso viel wert war, das sie aber häufig nur gegen einen Aufpreis erhielten. Wenn kein Aufpreis zu zahlen war, hatte sich zumindest der Silbergehalt der Münzen stark reduziert. Wer also seine Einkünfte in Pfennigen sparte, konnte zusehen, wie sie ständig weniger wert wurden.
Während für uns Inflation, Mehrwertsteuer und direkte Besteuerung selbstverständlich sind, waren sie für viele Menschen des 16. Jahrhunderts ein Skandal, der gegen Gottes Regeln verstieß. Sie verstanden nicht, dass die Amtskirche nicht reagierte. Doch deren Machthaber stammten selbst aus der adligen und bürgerlichen Oberschicht und wussten die neuen ökonomischen Mittel zu nutzen.
So fand ein radikaler Kirchenreformer wie Martin Luther breite Unterstützung. Wobei sich seine Lehre noch stark ändern musste, bis sie für die Obrigkeiten so nützlich wurde, dass sie sich verbreitete. Die Predigt, die wir Ihnen in diesem Beitrag vorstellen, stammt aus der Anfangszeit Martin Luthers. Sie wurde zwei Jahre nach seinen 95 Thesen verfasst. Sie ist in einem Flugblatt abgedruckt, das das MoneyMuseum im Jahr 2022 vom Antiquariat Tresor am Römer in Frankfurt erwerben konnte. Die zweite darin enthaltene Predigt wurde kurz darauf geschrieben und dem Manuskript hinzugefügt.
Die Basler Druckerei Adam Petri und die Reformation
Wie erfolgreich diese Predigt war, sehen wir daran, dass sie erstmals 1519 erschien und unser Basler Druck von 1520 bereits die 9. Ausgabe ist. Er stammt aus der Druckerei von Adam Petri, die sich vor allem mit der Herausgabe von Schriften zur praktischen Theologie beschäftigte. Unter den mehr als 300 Drucken, die Petri publizierte, stammten 88 aus der Feder von Martin Luther, dazu kamen Schriften von anderen Reformatoren wie Philipp Melanchthon und Huldrych Zwingli. Adam Petri wagte es sogar, ein zentrales Werk von Jan Hus neu herauszugeben, der ein Jahrhundert zuvor als Ketzer auf einem Scheiterhaufen in Konstanz verbrannt wurde. Adam Petri gehört damit zu den Druckern, die Ideen und Werte der Reformation mit ihren Druckerzeugnissen in Deutschland verbreiteten.
Wie steht Luther zum weltlichen Gut?
Wer Luther heute zu einem Vordenker einer antikapitalistischen Gesellschaft stilisieren möchte, befindet sich in bester Gesellschaft. Karl Marx zitierte Luthers Predigt über den Umgang mit dem weltlichen Gut nur allzu gerne, denn Luther propagierte zentrale Ideen, die sich im 19. Jahrhundert im Sozialismus und im Kommunismus wiederfanden.
Luther erlaubte zwar den Besitz, doch nicht in der Form, die wir heute kennen. So verbot er zum Beispiel, den eigenen Besitz mit Gewalt oder vor Gericht zu verteidigen. Göttlicher Friede könne nur durch die Bereitschaft entstehen, Unrecht zu erleiden und sich auf die weltliche resp. geistliche Obrigkeit zu verlassen. Enteignung und Kollektivierung hätte Luther als wunderbares Mittel zur Verwirklichung von Gottes Reich verstanden.
Hiob als Vorbild jedes guten Christen
Er präsentiert den alttestamentarischen Hiob als Ideal. Hiob, dessen Geschichte in einem Buch des Alten Testaments überliefert ist, wurde zum Opfer einer Wette zwischen Gott und Teufel: Der Teufel wettet, auch Hiob würde Gott fluchen, wenn der ihm all seinen Besitz raube. Gott nimmt diese Wette an und entzieht Hiob erst all seinen Besitz, dann seine Kinder und zuletzt seine Gesundheit. Als Hiob all dieses menschliche Leid fromm akzeptiert, erklärt sich Gott zum Sieger und ersetzt Hiob Besitz, Kinder und Gesundheit. Mit unserem Gottesverständnis hat dieser Gott nichts zu tun; für Luther war die Geschichte Hiobs Teil der göttlichen Offenbarung und Hiob der Inbegriff des guten Christen.
Was hat Hiob mit Wucher zu tun?
Aus dem Beispiel Hiobs leitet Luther ab, dass ein Christ nicht an seinem Besitz hängen möge. Und daraus folgt für ihn die Pflicht des Gläubigen, jedem - gleich ob Freund oder Feind - aus dem eigenen Besitz das zu geben, was der brauche, und zwar ohne jegliche Gegenleistung. So ließe sich auch das Betteln abstellen. Und überhaupt sei es wesentlich gottgefälliger, die Armen zu speisen, als Geld für die teuren Accessoires eines üppigen Gottesdienstes auszugeben. Bei solch unsinnigen Spenden auch noch auf einen Sündenerlass zu hoffen, sei wider jedes Gebot Gottes.
Auch damit hat Luther seinen Finger am Puls der Zeit: Tausende zogen von Kloster zu Kloster, um dort ihren Lebensunterhalt zu erbetteln. Die Rückkehr in eine gesicherte Existenz war ihnen nicht möglich. Die Kinder von Bettlerinnen vermehrten ihrerseits die Schar der Hilfesuchenden, ohne Aussicht auf Lohn und Brot.
Ihnen zu schenken, war göttliches Gebot, da unterschied sich Luthers Meinung nicht von der der Amtskirche. Doch Luther ging weiter: Wenn es christlich sei, den Armen zu schenken, müsse man dem Bedürftigen auch Geld leihen, und zwar ohne Eigeninteresse und ohne Rücksicht darauf, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, das Geld zurückzuerhalten. Geld zu leihen sei nur dann gerechtfertigt, wenn es dem Leihnehmer kostenlos zur Verfügung stehe. Wer einen Gewinn aus dem Geliehenen zieht, der leiht nicht mehr, sondern begeht die Todsünde des Wuchers und des Geizes, womit Luther anders als wir vor allem die Geldgier meint.
Auch wenn Theologen schöne Modelle entwerfen, wenn sie zum Beispiel den Zins nicht als Zins, sondern als Geschenk bezeichnen - damals eine gerne geübte Praxis -, bleibe es Wucher, stellt Luther fest. Nur weil sich Kredite und Zinsen eingebürgert haben, seien sie noch lange nicht christlich.
Mit anderen Worten: Wenn Sie über ein Bankguthaben, Wertpapiere, Aktien oder irgendeinen anderen Besitz verfügen, der ihnen ein regelmäßiges Einkommen einbringt, dann hätte Luther Sie im ewigen Höllenfeuer gesehen.
Die zweite Predigt: Vom Zinsen und Schulden
Für all diejenigen, die glauben, Luther nicht richtig verstanden zu haben, fasst der Reformator die wesentlichen Punkte seiner ersten Predigt als Einleitung gleich noch einmal zusammen. Für ihn beruht der christliche Gebrauch jeglichen Besitzes auf drei Säulen:
- Ein Christ gibt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
- Ein Christ leiht, ohne Zinsen zu berechnen.
- Ein Christ wehrt sich nicht, wenn ein anderer ihm sein Gut mit Gewalt nimmt.
Das ist heute starker Tobak in Ländern, in denen die Garantie des Eigentums zu den Grundrechten gehört, und ging schon damals weit darüber hinaus, was die Amtskirche ihren Gläubigen gebot. Luthers Forderungen hätten die Entwicklung des bürgerlichen Wirtschaftsmodells um Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück katapultiert.
Dasselbe gilt für die Forderungen seiner zweiten Predigt. Sie trägt den Titel "Von dem zinskauff oder iärlicher gülte" - ins moderne Deutsch übersetzt: Von den Darlehen und Schulden. Darin geht es Martin Luther darum, noch einmal dezidiert jegliches Darlehen gegen Zinsen zur Todsünde zu erklären, und er begründet seine Ansicht erst einmal damit, dass es sich um eine neue Form des Geschäfts handelt. Wir sehen an dieser Stelle, wie tief Martin Luther im mittelalterlichen Denken verwurzelt ist, als alles als verdächtig galt, was neu war.
Eben weil Schulden und Zinsen für viele seiner Leser so neu waren, musste Luther erst erklären, wie das System funktioniert, und aus welchen Gründen andere Theologen es billigen: Ein Mann gibt einem anderen Mann 100 Gulden. Mit diesen 100 Gulden könnte er nun selbst ein Geschäft machen und dabei 5 oder 6 Gulden verdienen. Doch statt selbst Handel zu treiben, gibt er das Geld unter der Bedingung weiter, dass der andere Mann ihm die 5 Gulden, die der Leihgeber unter anderen Umständen gewonnen hätte, erstattet. Dies wird von der Kirche akzeptiert, weil der Leihgeber mit seinem Geld ja durchaus eine größere Summe hätte verdienen können. Tatsächlich entsprechen die 5 Gulden dem kirchlich empfohlenen Zinssatz.
Doch Martin Luther bemängelt, dass das Risiko allein beim Zinsnehmer liege. Damit habe der Leihgeber alle Vorteile auf seiner Seite, und deshalb sei es zwar nicht direkt Wucher, aber doch ein Unrecht, das den Urheber mit der Todsünde des Geizes beflecke. Schließlich würde ja jeder lieber Leihgeber sein als Zinsnehmer und damit mühelos reich werden. Es sei nur dann gerecht, Zins zu nehmen, wenn beide Parteien gleichermaßen ein Risiko tragen. Was für uns heute weltfremd klingt, war im Hochmittelalter ein gängiges Wirtschaftsmodell: Risikoreiche Kaufmannfahrten wurden zum großen Teil so finanziert, dass die Geldgeber vom Gewinn einen Anteil erhielten, der prozentual der Größe ihres Darlehens entsprach.
Martin Luther war sich durchaus bewusst, dass niemand mehr Geld zur Verfügung stellen würde, wenn er keine Zinsen erhielte. Doch statt den Ausgleich zwischen christlicher Botschaft und dem damaligen Wirtschaftssystem zu suchen, nutzte er diese Feststellung, um zu illustrieren, dass das Zinswesen Unrecht sei. Eben daran sähe man, so Luther, dass beim Leihen gegen Zins der Geiz und der Wucher im Vordergrund stünden.
Die Protestanten und Luther
Luthers Lehre wurde, wie wir alle wissen, gerade von den freien Reichsstädten und den unabhängigen deutschen Reichsfürsten gerne übernommen. Nicht wegen Luthers Thesen zum Zinswesen, sondern weil er ihnen eine ausgezeichnete theologische Begründung lieferte, den gesamten Kirchenbesitz auf ihrem Territorium zu beschlagnahmen und sein Einkommen in die eigenen (leeren) Taschen zu leiten. Luthers ökonomische Bedenken wurden dagegen geflissentlich ignoriert. Sie passten nicht zur wirtschaftlichen Entfaltung der modernen Welt. Und deshalb war es ein anderer Theologe, der die gültige Deutung des protestantischen Kaufmanns formulierte.
Calvin widersprach Luther vehement. Er berief sich dabei auf die Eigenschaften Gottes: Gott sei gut, gerecht und allwissend. Wie könne also ein gerechter und guter Gott, der schon im voraus wisse, dass sich ein Mensch bewähren werde, ihn nicht schon im Diesseits mit Erfolg belohnen? Damit rechtfertigte Calvin den Reichtum, und zum Reichtum gehörte es natürlich auch, als Leihgeber das eigene Kapital für sich arbeiten zu lassen.
Was weder Luther noch Calvin rechtfertigten, war ein Leben ohne Arbeit. Unser Konzept von Freizeit, Urlaub und Rente wäre ihnen wahrscheinlich gottlos erschienen.
Das aber stört heute niemanden. Wir haben uns daran gewöhnt, die verehrten Theologen genau wie die heiligen Schriften so zu zitieren, dass sie unsere eigenen Ansichten begründen. Was uns nicht in den Kram passt, lassen wir dabei großzügig weg.