Ist der Mensch von Natur aus gut oder böse? Ist er dem anderen wohlgesonnen oder neidet er ihm seinen Besitz? Und welche Form der Regierung ist am besten dazu geeignet, Sicherheit und Wohlstand seiner Bürger zu gewährleisten? Diese Fragen stellten sich ab dem 17. Jahrhundert viele europäische Denker. Eine prominente Idee war die des Kontraktualismus, also die Vorstellung, dass sich Menschen freiwillig mit Hilfe einer Art Gesellschaftsvertrag als Staatskörper zusammenzuschließen. Die Philosophen Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jaques Rousseau setzten sich alle mit dieser Idee auseinander, kamen jedoch dabei zu unterschiedlichen Schlüssen. Wie sich Locke den Menschen im Naturzustand vorstellte und wie für ihn der ideale Gesellschaftsvertrag aussah, darum soll es heute gehen.
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Der Naturzustand
John Locke (1632-1704) und Thomas Hobbes (1578-1679) lebten etwa zur selben Zeit. Und was für eine Zeit! Das 17. Jahrhundert war von extremen politischen Umbrüchen geprägt. Innerhalb weniger Jahrzehnte sah man in England die Exekution des Monarchen Karl I., eine Republik, eine Militärdiktatur, eine Rückkehr zur Monarchie und schließlich eine friedliche Revolution. Angesichts dieser gewaltigen Unruhen und vieler verschiedener Regierungsmodelle, mit denen hier in kurzer Zeit experimentiert wurde, scheint es kaum verwunderlich, dass sich die beiden so intensiv mit dem Thema beschäftigten.
Hobbes’ Denken ist stark von den Erfahrungen des blutigen englischen Bürgerkriegs geprägt und konzipiert den Naturzustand als kriegsähnliches, anarchisches Chaos, als „Krieg aller gegen alle“. Die einzige Möglichkeit, diesen Zustand unter Kontrolle zu bringen, ist mit Hilfe eines absolutistischen Souveräns, der Ordnung auch notfalls mit dem Schwert durchsetzen kann. Bei Locke hingegen gelten selbst im Naturzustand gewisse Gesetze, allen voran das Gesetz der Vernunft. Er traut dem Menschen durchaus zu, sich aus freien Stücken vernünftig zu verhalten, das heißt zum Beispiel dem anderen keinen Schaden zuzufügen oder seinen Besitz zu respektieren.
Woher kommt das Eigentum?
Eine interessante Frage ist die, wie der Mensch in Lockes Vorstellung zu Eigentum kommt. Im Naturzustand gehört erstmal alles allen, bzw. alles Gott. Wenn ein Mensch allerdings Arbeit verrichtet, so Locke, zum Beispiel indem er einen Apfel pflückt und ihn anschließend verzehrt, so macht er sich dieses Gemeingut zu eigen, er verleibt sich den Apfel im wahrsten Sinne des Wortes ein. Tut er dies im großen Stil, kann er Felder bestellen, überschüssige Naturalien gegen Geld tauschen und Privatbesitz aufbauen. Wenn der Mensch im Naturzustand bereits vernünftig handelt und sogar ein funktionierendes Wirtschaftssystem aufbauen kann, stellt sich aber eine wichtige Frage: Wozu benötigt er dann noch den Staat?
Nun ja, obwohl die Menschen bei Locke unter bestimmten Bedingungen in der Lage sind, sich friedlich und gesittet zu verhalten, heißt das nicht, dass sie es auch immer tun werden. Die Gefahr, dass sie neidisch werden und anderen Besitz streitig machen wollen, ist jederzeit gegeben. Also schließen sie sich zusammen, um ihr eigenes Leben, ihre Freiheit und ihren Besitz besser schützen zu können. Etwas weniger Freiheit, etwas mehr Sicherheit.
Wir sehen also, dass es sich bei Lockes Gesellschaftsvertrag nicht wie bei Hobbes um eine Notwendigkeit auf Leben und Tod handelt, sondern vielmehr um einen freiwilligen Schritt, der dem Einzelnen langfristig einen Vorteil verspricht. Dass in Lockes Denken die Aufgabe des Staats primär darin liegt, die Unversehrtheit und Freiheit des Einzelnen zu schützen, erklärt, warum er so häufig als ein Begründer des Liberalismus zitiert wird.
Nein zum Gottesgnadentum
Jetzt wo wir geklärt haben, warum das Leben im Staat dem im Naturzustand vorzuziehen ist, stellt sich die Frage, wer diesen regieren darf und warum. Aus der ersten seiner Zwei Abhandlungen über die Regierung wissen wir schon mal, wer für Locke keine legitimen Herrscher sind: Monarchen, die sich auf das Gottesgnadentum berufen. Die These, dass Gott Adam die absolute Herrschaft über die Welt gegeben habe und sich deswegen moderne Könige im Rahmen einer Erbmonarchie indirekt auf dieses Recht berufen könnten, sei falsch. Gott habe Adam lediglich das Recht gegeben, über die Welt und die Tiere zu herrschen, nicht aber über andere Menschen.
Eine Regierung erhält ihre Legitimation also nicht durch Gott, sondern dadurch, dass sie ihre Aufgabe erfüllt, die Freiheit der Menschen zu schützen. Tut sie das nicht, verwirkt sie ihren Machtanspruch und darf abgesetzt werden, notfalls auch mit Gewalt. Für Locke ist es zweitranging, ob die Regierung die Form einer Monarchie, einer Republik oder einer anderen Staatsform annimmt, solange sie sich an die Regeln des Vertrags hält und nicht zur Tyrannenherrschaft wird. Denn – und das ist fundamental wichtig – der Vertrag gilt in beide Richtungen.
Das Recht auf Revolution und die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung
Die Idee, dass eine schlechte Regierung vertragsbrüchig werden kann und man ihr deswegen kündigen darf, war revolutionär! Sie lieferte den amerikanischen Kolonisten das theoretische Fundament, sich von der Herrschaft Großbritanniens loszusagen – und Georg III. den Vertrag zu kündigen. Der war seiner Aufgabe, für das Gemeinwohl seiner Staatsbürger in Übersee zu sorgen, nach Ansicht der Aussiedler nämlich nicht nachgekommen, sondern hatte ihnen das Leben über Jahre hinweg schwer gemacht. Die Liste der „grievances“, also der Beschwerden, die die Verfasser der Unabhängigkeitserklärung 1776 beilegten, war lang. Die Kolonisten klagten darüber, dass sie britische Soldaten des Königs durchfüttern mussten, sie klagten über immer neue Steuern und Abgaben ohne im Gegenzug ein parlamentarisches Mitspracherecht zu erhalten, über unfaire Gerichtsprozesse und vieles mehr. Die Regierung unter Georg III. war für sie zu einer schlechten Regierung geworden. Aus Lockes Schriften konnten sie jetzt endlich auch eine Begründung ableiten, warum ihnen dies das Recht zur Revolution gab. So sind manche Passagen aus Lockes Werk fast wortwörtlich in die Unabhängigkeitserklärung eingeflossen, in der es heißt:
,,Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen ...“
Der Unabhängigkeitskrieg sollte noch bis 1783 dauern, aber letztendlich gelang den dreizehn Kolonien der Sieg. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren geboren, als föderale Republik und mit einem neuen George an ihrer Spitze: George Washington, dem ersten gewählten Präsidenten der USA.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Den englischen Text von Lockes Two Treatises of Government können Sie hier abrufen.
Wenn Sie die – sehr überschaubare – Amerikanische Unabhängigkeitserklärung nochmal in Gänze lesen wollen, können Sie das hier tun (auf Deutsch).
Mehr über Thomas Hobbes und sein Lebenswerk erfahren Sie in dieser Buchvorstellung bei Bookophile.
Ebenfalls auf Bookophile: Eine Einführung in Rousseaus Gesellschaftsvertrag und den „Zwang zur Freiheit“.