Eigentlich - wenn man es genau betrachtet - dreht sich die ganze Geschichte, die uns Anthony Trollope auf knapp 900 Seiten erzählt, um 450 Pfund, um 1.200 Pfund und um ein kleines Vermögen. Man könnte es natürlich auch anders formulieren. Im Mittelpunkt des Plots steht der Kampf zwischen High Church und Low Church, also zwischen den Traditionalisten der anglikanischen Kirche und den Evangelikalen, die eben diese Kirche durch den Laiendienst zu erneuern suchen. Allerdings kämpfen die Protagonisten von Trollopes Roman „Die Türme von Barchester“ nicht um Glaubensinhalte, sondern um zwei Ämter und eine Witwe. Zur Disposition stehen das Amt des Spitalvorstehers mit einem Einkommen von 450 Pfund, das Amt des Dekans mit einem Einkommen von 1.200 Pfund und die Hand der schönen (und vor allem reichen) Witwe Eleanor, Tochter von Mr. Harding.
Mr. Slope, Mr. Quiverful, Mr. Arabin und Mr. Harding
Sehen wir uns einmal die Konkurrenten an, die sich um eine oder zwei dieser drei Einkommensquellen bewerben. Da ist zunächst der bösartige Intrigant Slope, der unter dem Mäntelchen der Frömmigkeit seine eigenen Verhältnisse zu verbessern sucht. Ihm ist kein Trick zu mies, keine Schmeichelei zu dick aufgetragen. Als schmieriger Nobody schleimt er sich in die Herzen der Damen, um sie für seine Zwecke nutzbar zu machen. Zu seinen Verehrerinnen gehört zunächst die Gattin des Bischofs. Sie hat ihn ihrem Mann als persönlichen Kaplan aufs Auge gedrückt. Das kann sie. Denn ihr Mann ist ein Waschlappen, der weiß, wer ihm die kleinen Freuden des Lebens verschafft oder vorenthält. Seine Gattin nutzt seine Schwächen, um das Schicksal des Bistums nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten.
So findet sie Gefallen daran, der Gattin von Mr. Quiverful, Mutter einer munteren Kinderschar von 14 Köpfen, den Posten des Spitalvorstehers (450 Pfund Einkommen jährlich!) für ihren Gatten zu versprechen. 450 Pfund! Ein Vermögen für eine Familie, die bisher mit einer Pfarrersstelle zu 50 Pfund auskommen musste. 450 Pfund! Das verdreht sogar dem Schneider den Kopf, und er eilt sofort herbei, um der Gattin und ihren älteren Töchtern endlich die ersehnten Seidenkleider auf Kredit anzumessen. 450 Pfund! Dazu ein großes Haus mit einem herrlichen Garten! Das würde Mr. Slope, der schmierige Bischofskardinal, viel lieber Mr. Harding zukommen lassen. Denn der ist schließlich der Vater der schönen Eleanor, und damit hätte die Pfründe von 450 Pfund für Mr. Slope gleich zwei Vorteile: 1.) Eleanor ist ihm so dankbar, dass sie ihn sofort heiratet; 2.) bei 450 Pfund im Jahr liegt ihm der Schwiegervater nicht auf der Tasche, sondern spart ein reiches Erbe zusammen.
Ja, Mr. Slope strebt nach dem Jackpot, der reichen Eleanor. Dass diese ihn vielleicht doch lieber nicht heiraten möchte, kommt ihm gar nicht in den Sinn. Eleanor muss ihm - wie unweiblich! - eine Ohrfeige geben, damit er endlich versteht, dass sein Heiratsantrag abgelehnt ist, und er seine Finger gefälligst bei sich behalten soll.
Doch die roten Striemen der Ohrfeige sind noch nicht verblasst, da hört Mr. Slope vom Tod des Dekans. Seine Pfründe in Höhe von 1.200 Pfund jährlich steht damit zur Verfügung. 1.200 Pfund! Wie schnell läuft Mr. Slope, um wieder einmal Intrigen und Schmeicheleien in Gang zu setzen, um sich wenigstens diese Position zu sichern, wenn die junge Witwe schon zu unreif ist, die Ehre seines Heiratsantrags zu würdigen. Allerdings hat Mr. Slope nicht mit der Gattin des Bischofs gerechnet. Slopes Widerstand gegen die Ernennung von Mr. Quiverful zum Spitalvorsteher hat die energische Dame gegen ihr Geschöpf aufgebracht. Slopes Widerstand muss eliminiert werden, und mit ihm auch gleich die Person Slopes. Der Bischof wagt selbstverständlich nicht zu mucksen (er schätzt angebrannten Braten und eiskalte Zimmer überhaupt nicht) und so wird Slope eiskalt abserviert. Damit fällt das Amt (nicht zu vergessen die 1.200 Pfund!) an Mr. Harding.
Und damit sind wir bei dem heimlichen Helden des Romans, bei dem einzigen Geistlichen in Barchester, der nicht nach einer Pfründe schielt, sondern den Menschen dienen will. Er Dekan? Diesem Amt fühlt sich Mr. Harding nicht gewachsen. Er will es ablehnen (und damit auf die 1.200 Pfund verzichten), was weder seine Freunde noch seine Verwandten nachvollziehen können.
Was für ein Glück, dass seine Tochter, die schöne Witwe Eleanor (ja, die mit dem Vermögen), nur zu genau weiß, wen sie heiraten möchte. Natürlich einen Geistlichen, und zwar den schüchternen, aber tüchtigen Mr. Arabin. Ihm schenkt sie Herz und Vermögen. Mr. Arabin hat das Herz auf dem rechten Fleck hat und weiß Geld und Vermögen zwar zu schätzen, stellt es aber nicht ins Zentrum seines Lebens. Ein Happy End ist vorprogrammiert. Als Sahnehäubchen verzichtet Mr. Harding zu Gunsten seines Schwiegersohns auf das Amt des Dekans. Und der gewinnt so nicht nur das Vermögen der Witwe, sondern auch die 1.200 Pfund im Jahr. Und alles ist gut.
Ein entlarvender Roman
Anthony Trollope gewährt uns in den „Türmen von Barchester“ einen detaillierten Einblick in die Köpfe all seiner Protagonisten. Er schildert dafür jeden einzelnen ihrer Gedanken (deshalb die 900 Seiten!). Sie sind egoistisch und berechnend, stolz und verbohrt, naiv und liebenswürdig, eingeschnappt und verliebt, sie sind, wie wir Menschen eben sind, Produkte unserer Gefühle, Hoffnungen und Irrtümer.
Trollope lässt jeden einzelnen Charakter so klar vor unserem inneren Auge erstehen, dass wir geradezu glauben, es hätte diese Bürger von Barchester gegeben. Dabei ist schon der Name der Stadt eine Erfindung. Er erinnert an die großen Bistümer Englands wie Winchester, Chichester oder Rochester. Tatsächlich schildert Trollope Hierarchie und Verhältnisse all dieser Bistümer in seinem Roman realistisch bis ins letzte Detail.
Dabei fällt es kaum auf, dass seine Protagonisten eher Typen als Individuen sind. Sie agieren vielleicht nicht ganz so schwarz-weiß wie im Trivialroman, aber dennoch verhält sich Karrierist Slope wie das Urbild des Karrieristen; Mr. Harding ist zu gut, um wahr zu sein; Tochter Eleanor ist die Inkarnation der naiven Witwe mit wenig Verstand und viel Intuition.
Der Sieg des Weltlichen
Tatsächlich ist Trollopes Roman eine brillante, urkomische und unterhaltsame Karikatur der Anglikanischen Kirche seiner Epoche. Sie dürfte in der Realität nicht besser und nicht schlechter gewesen sein, als es Institutionen zu allen Zeiten sind, aber durch Trollopes Schilderung gewinnen wir den Eindruck, es handle sich um eine völlig antiquierte und überflüssige Institution. Was Geistliche damals an sozialer und psychologischer Care-Arbeit auf dem Lande leisteten, bleibt völlig auf der Strecke.
Damit passt sich Trollope den geistlichen Strömungen seiner Zeit an. Die staatlichen Reformer erhoben damals die Forderung, alle sozialen Belange zu kontrollieren. Ihre Gegner mussten so schwarz gemalt werden, wie es nur ging. Dass dabei eine differenzierte Sichtweise auf der Strecke blieb, auf der Strecke bleiben musste, ist einleuchtend.
Stellen wir uns doch nur einmal vor, ein Roman würde heute das Wirken einer NGO aufs Korn nehmen und auf das Geltungsbedürfnis einiger ihrer Vertreter, das Karrierestreben einiger ihrer CEOs reduzieren. Wenn wir uns das ausmalen, können wir ungefähr einordnen, wie realistisch Trollopes Schilderung der Anglikanischen Kirche ist. Für die damaligen Geistlichen dürfte dasselbe gelten, was heute für NGOs gilt: Es mag so manchen Menschen geben, der seinen Posten für die eigenen Bedürfnisse missbraucht, aber wie viel gute Arbeit bliebe ungetan, gäbe es keine NGOs.