Was passiert in einer Gesellschaft, in der die ewigen Werte verloren gegangen sind? In der das Recht des Stärkeren herrscht und der Schwache tyrannisiert wird? Was bedeutet in so einer Gesellschaft Zivilcourage? Und wie gelingt es dem Einzelnen, in einem totalitären System seine Menschlichkeit zu behalten? Ödön von Horváths Roman „Jugend ohne Gott“ ist eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime in einer Zeit, in der es lebensgefährlich sein konnte, sich mit dieser Regierung kritisch auseinanderzusetzen. Es ist die furiose Verteidigung all derer, die Zeit brauchen, bis sie den Mut gesammelt haben, aufzustehen und zu protestieren.
Damit greift der Roman die Erfahrungen des Autors auf. Dieser gefeierte Intellektuelle der Zwischenkriegszeit war zu gesellschaftskritisch, um bei den nationalsozialistischen Machthabern beliebt zu sein. Nichtsdestotrotz hätte von Horvath zu gerne seinen Frieden mit dem Regime gemacht, wäre dieses dazu bereit gewesen. Horvath wurde Mitglied der Union nationaler Schriftsteller. Er versuchte, dem Reichsverband Deutscher Schriftsteller beizutreten. Er hätte die Unmenschlichkeiten der deutschen Regierung übersehen, wäre ihm dafür das Privileg zuteil geworden, weiter publizieren und damit Geld verdienen zu dürfen. Doch die Nationalsozialisten taten ihm diesen Gefallen nicht. Von Horváth wurde 1936 aus Deutschland ausgewiesen. Im Jahr darauf strich man ihn aus der Mitgliederliste der Reichsschrifttumskammer, was einem Publikationsverbot in Deutschland gleichkam.
Und genau in diesem Jahr erschien der Roman „Jugend ohne Gott“. Es ist ein Schlüsselroman, in dem der Autor seinen Titelhelden stellvertretend den Weg vom Opportunismus zur Zivilcourage beschreiten lässt. Ödön von Horváth erzählt die Geschichte eines Lehrers, der sich bemüht, seine Schüler Menschlichkeit zu lehren. Seine Angst vor dem Verlust seiner Stellung bringt ihn in eine Situation, in der sein eigenes, relativ harmloses Handeln schwerstes Unrecht hervorbringt: Weil er zu feige ist zu gestehen, dass er das Tagebuch eines Schülers gelesen hat, wird ein anderer ermordet. Einer Unschuldigen muss die Hinrichtung drohen, ehe der Lehrer sich endlich entscheidet, das moralisch Richtige zu tun: die Wahrheit zu sagen und durch sein Geständnis die Schuld gerecht zuzuordnen. So kann das Leben weitergehen. Für den Lehrer gibt es jedoch nach seinem Geständnis keinen Platz mehr in einem solchen Land. Er wandert aus, geht nach Afrika, um dort einen neuen Anfang zu machen.
Ödön von Horváth greift in seinem Buch die nationalsozialistischen Bemühungen an, jede übermenschliche Autorität, jede moralische Instanz zu diskreditieren und sich eine Jugend zu erziehen, die einzig an die Befehle eines (menschlichen) Führers glaubt. Eine „Jugend ohne Gott“ ist, so entnimmt man dem Roman, schrecklich und zu jeder schrecklichen Tat fähig. Dies ist eine überraschende Schlussfolgerung für einen Mann wie Ödön von Horváth, der selbst bereits früh aus der Kirche ausgetreten war.
Der desillusionierte Autor, der sich einer Welt gegenübersah, die er nicht mehr als die eigene begreifen konnte, hätte Voltaire mit Sicherheit zugestimmt, als der sagte: „Wenn es Gott nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.“ Denn der Mensch braucht Ideale und die Hoffnung auf etwas, das grösser ist als das Hier und Jetzt. Tatsächlich ist der Roman „Jugend ohne Gott“ ein Lehrstück dafür, wohin der reine Materialismus führt, und sollte deshalb in einer materialistischen Zeit wie der unseren Pflichtlektüre sein.