Am 1. Juli 1694 eröffnete Friedrich III., Markgraf von Brandenburg, feierlich seine Universität in Halle. Diese Gründung war Programm. Im 17. Jahrhundert war ein bedeutender Landesherr stolz darauf, dass in seinem Reich die hehren Wissenschaften gepflegt wurden. Ja, so war das damals. Die Pflege der Wissenschaften war geradezu eine Bedingung dafür, dass die Reputation eines Fürsten wuchs. Und Friedrich wollte tatsächlich hoch hinaus. Brandenburg, die ehemalige „Streubüchse des Heiligen Römischen Reichs“ hatte an Bedeutung gewonnen. Friedrichs Vater Friedrich Wilhelm - uns besser bekannt als der große Kurfürst - hatte in der Schlacht bei Fehrbellin die Schweden geschlagen, die damals als eine der wichtigsten europäischen Großmächte gehandelt wurden.
Diesen Schwung nutzte Friedrich III. Er plante, seinem Reich einen Platz im europäischen Mächtekonzert zu verschaffen, und dazu gehörte es nun einmal, wissenschaftliche Institutionen zu gründen. Die Friedrichs-Universität von Halle sollte nur die erste sein.
Artikeltext:
Ein Privatgelehrter in Leipzig
So eine neue Universität hatte nicht nur europäische Implikationen. Sie bot daneben vielen arbeitslosen Wissenschaftlern die Chance auf eine anständig dotierte Professur. Einer von ihnen lebte in Leipzig - nur 40 Kilometer von Halle entfernt. Wir wissen nur wenig über Friedrich Wilhelm Bock, außer dass er wahrscheinlich selbst im toleranten Preußen eher ein Außenseiter war. Bock war nicht einfach ein Ausländer, er war ein zum christlichen Glauben konvertierter Jude, der sich mit der Taufe zwischen zwei Stühle gesetzt hatte. Bock war kein reicher Financier, kein wohlhabender Handelsherr, sondern „nur“ ein profunder Kenner der hebräischen Sprache, des Talmuds und der rabbinischen Schriften. Wie sollte ein Mann wie er seine Familie ernähren?
Die Gründung einer neuen Universität in Halle war für Bock eine einmalige Chance. Auf einen Schlag würden dort viele neue Professoren Arbeit finden. Bock erhoffte sich einen Lehrstuhl, wie wir aus dem von ihm veröffentlichten Buch erfahren. Hier ein Auszug aus seiner Widmung an Markgraf Friedrich III., der einfacheren Lesbarkeit halber gleich ins moderne Deutsch übersetzt: Da Euer Durchlaucht seine landesväterliche Sorge darauf gerichtet hat, eine neue Universität ... einzurichten, ... habe ich, der ich als ein Ausländer unter den Fittichen Ihrer gnädigen Herrschaft bisher Zuflucht gesucht habe, es nicht unterlassen wollen, diese Blätter zu der großen Menge der Glückwünsche beizutragen und an Euer Gnaden zu schicken. ... Denn nachdem mich Gott durch sein heiliges Wort erleuchtet, aus dem Judentum errettet und zu Jesu Christi bekehrt hat, bin ich auf Anraten bedeutender Gönner und Freunde auf Euer kurfürstlicher Durchlaucht neu gegründete Universität aufmerksam geworden, um dort ... mit meiner geringen Kenntnis in der hebräischen Sprache und in den Rabbinischen und Talmudischen Schriften die studierende Jugend ... zu unterrichten.
Mit anderen Worten, Friedrich Wilhelm Bock schreibt in seinem Vorwort ganz offen, dass er sich eine Anstellung an der neu gegründeten Universität von Halle wünschte. Zu diesem Zweck - so schreibt er - schien es mir besonders förderlich, eine nicht unnütze jüdische Abhandlung in die deutsche Sprache zu übersetzen, durch die ich ein Lehrbuch geschaffen habe, mit dem ich die Studierenden umso leichter in der Rabbinischen Sprache unterrichten und anleiten könnte.
Bock hoffte also, an der neuen Universität eine Lehrstelle für Hebräisch und die jüdischen Schriften zu erhalten. Die Chancen dafür standen gut. Das Hebräische galt seit dem 16. Jahrhundert als wichtiger Bestandteil der theologischen Ausbildung, vor allem in protestantischen Ländern. Und als ehemaliger Jude und Schriftgelehrter war ihm das Hebräisch bestens vertraut.
Dazu kam, dass in Halle die Pietisten zuhause waren. Mit diesem Begriff wird eine Reformbewegung des Protestantismus bezeichnet, zu deren Kristallisationspunkt sich die Universität von Halle entwickeln sollte. Die Pietisten waren nicht judenfeindlich. Sie waren der Überzeugung, dass die Juden bis zur Geburt Christi das auserwählte Volk Gottes gewesen seien, das die Christen abgelöst hätten. Deshalb sei es von höchster Wichtigkeit, sich mit den jüdischen Lehren vertraut zu machen. Aus ihnen atme genauso der Geist Gottes wie aus den Schriften des Neuen Testaments. Ein bekehrter Jude wie Friedrich Wilhelm Bock war für die Halleschen Pietisten geradezu die Traumbesetzung für den Job, weil sie sich erträumten, alle anderen jüdischen Brüder wie ihn zu der Religion zu führen, die sie selbst für die einzig wahre hielten.
Nun galt es nur noch, den Landesherren zu überzeugen. Bock tat dies, indem er sein Können unter Beweis stellte. Er schuf vom Leḳaḥ Ṭob - der bekanntesten jüdischen Schrift seiner Epoche, von der jeder Gebildete in Europa zumindest gehört hatte - eine zweisprachige Ausgabe.
Abraham Yagel und das Leḳaḥ Ṭob
Autor dieses Buchs war ein italienischer Kabbalist namens Abraham Yagel. Er lebte zwischen 1553 und 1623. Er verfasste das Leḳaḥ Ṭob als eine Art Zusammenfassung der jüdischen Glaubensbotschaften. Hinsichtlich der Form lehnte er sich an den katholischen Katechismus des Petrus Canisius von 1555 an. Wie der Kanisi - so wird das einflussreiche Werk in Bayern umgangssprachlich genannt - organisierte auch Yagel das theologische Wissen in ein Frage- und Antwortspiel. Mit diesem Kunstgriff strukturierte er komplexe Aussagen so einfach, dass sie leicht zu verstehen und zu lernen waren.
Das Leḳaḥ Ṭob erschien erstmals 1587 in Venedig. Ende des 17. Jahrhunderts gab es bereits Übersetzungen ins Jiddische, ins Lateinische, ins Englische und ins Deutsche, auf die man in Brandenburg aber keinen Zugriff hatte, wie Bock selbst in seiner Einleitung schreibt. Deshalb fügte er seine zweisprachige Ausgabe den vielen Übersetzungen hinzu. Es sollte nicht die letzte sein. Mitte des 18. Jahrhunderts existierten mehr als 20 verschiedene Übersetzungen. Mit anderen Worten, das Leḳaḥ Ṭob war das Buch, an dem die Christenheit lernte, was Juden glaubten.
Warum war das Leḳaḥ Ṭob so beliebt?
Die Beliebtheit dieser Schrift dürfte vor allem in ihrer Ähnlichkeit zur damals weit verbreiteten Form des christlichen Katechismus begründet sein. Christen begriffen intuitiv den Aufbau des Werks und konnten sich so auf seine Inhalte konzentrieren. Damit hob es sich positiv von den vielen Schriften ab, die sich nicht mit den Inhalten, sondern mit der Form des jüdischen Glaubens beschäftigten. Sie stellten die malerischen Unterschiede zwischen dem christlichen und dem jüdischen Gottesdienst in den Mittelpunkt und machten so aus dem Judentum eine exotische Glaubensform mit merkwürdigen Ritualen.
Das Leḳaḥ Ṭob half Christen zu verstehen, dass die äußeren Formen nicht mit den Glaubensinhalten gleichgesetzt werden durften, und dass der jüdische Glaube überraschende Ähnlichkeiten zum christlichen Glauben aufwies.
Der dritte Aspekt, den alle christlichen Leser liebten, war die Tatsache, dass schon Yagels (christliche) Zeitgenossen behauptet hatten, er habe sich später zum Christentum bekehrt. Eine Behauptung, der sich jüdische Gelehrte vehement entgegenstellten. Dieser Streit zeigt vor allem eines, nämlich für wie bedeutend sein Werk gehalten wurde. Es war so zentral, dass sowohl die Juden als auch die Christen seinen Autor nur zu gerne für sich in Anspruch genommen hätten.
Erfolg auf der ganzen Linie
Friedrich Wilhelm Bock hatte mit seinem Buch Erfolg. Wir wissen, dass er im Jahr 1695 die Lehrerlaubnis für den Talmud und die rabbinischen Schriften an der Universität von Halle erhielt.
Noch größeren Erfolg hatte Friedrich III. Es gelang ihm gegen militärische Unterstützung im Spanischen Erbfolgekrieg und eine Zahlung von 2.600.000 Dukaten (zuzüglich hoher „Vermittlungsprovisionen“), von Kaiser Leopold I. das Privileg zu erkaufen, sich im Jahr 1701 zum König krönen zu dürfen. Allerdings nicht zum König von Brandenburg, sondern nur zum König in Preußen, was damals einen großen, hundert Jahre später einen kaum noch verstandenen Unterschied machte.
Friedrich I., wie er nun genannt wurde, hinterließ seinem Sohn ein völlig umgestaltetes Reich. Das eher bäuerliche Berlin war zu Spree-Athen geworden. Friedrich hatte 24 eindrucksvolle Schlösser erbaut oder zumindest völlig umgestaltet, dazu eine Universität, zwei Wissenschaftsakademien und die königliche Bibliothek. Er hatte das berühmte Bernsteinzimmer in Auftrag gegeben und sein Land finanziell ruiniert. Sein Sohn Friedrich Wilhelm - den wir als den Soldatenkönig und verständnislosen Vater Friedrichs II. kennen - erbte rund 20 Millionen Reichstaler Schulden, die er rigoros Taler für Taler beglich.
Was aus Friedrich Wilhelm Bock geworden ist, wissen wir nicht. Er verschwand aus den Akten und damit aus unserer Geschichte.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Herunterladen können Sie Bocks Übersetzung des Leḳaḥ Ṭob im Münchner Digitalisierungs-Zentrum.
Ebenfalls eine sehr beliebte Quelle für die Geschichte jüdischer Kultur war eine Neuübersetzung von Flavius Josephus’ Buch Jüdische Altertümer, sozusagen der bebilderte Bibelersatz des 17. Jh.