Eigentlich könnte alles harmonisch verlaufen, nachdem Iwein – ein Ritter von Artus' berühmter Tafelrunde – die schöne Burgherrin Laudine zur Frau genommen hat. Doch als Iwein seine Abmachung mit Laudine nicht einhält, rechtzeitig nach Jahr und Tag von seiner Turnierfahrt zurückzukehren, beendet sie die Ehe. Iwein wird für sein zu spät kommen bestraft und vom Hof verstoßen. Ganz auf sich allein gestellt, erlebt er aufregende Abenteuer. Er rettet das Land einer adeligen Dame und gewinnt durch eine weitere Heldentat einen Löwen als Gefährten. Als er schließlich zufällig auf Lunete, die Vertraute seiner ehemaligen Frau Laudine, trifft, die angeklagt ist und deren Frist für einen Gerichtsprozess ausgerechnet am nächsten Tag ausläuft, sieht Iwein seine einmalige Chance: Das damalige Fristversäumnis nach der Heirat mit Laudine könnte nun wieder gut gemacht werden. Doch allein dies wird noch nicht reichen, um seine geliebte Laudine wieder zurück zu gewinnen.
„Iwein“, der zweite höfische Roman Hartmanns von Aue, entstand vermutlich um das Jahr 1200. Hartmann hatte den Artusroman aus der altfranzösischen Vorlage von Chrétien de Troyes „Yvain ou Le Chevalier au lion“ frei ins Mittelhochdeutsche übertragen. Mit 33 erhaltenen Handschriften ist „Iwein“ einer der bestüberlieferten Romane seiner Zeit und Hartmann von Aue heute neben Gottfried von Straßburg sowie Wolfram von Eschenbach einer der berühmtesten Dichter der mittelhochdeutschen Klassik.
Obwohl „Iwein“ schon über 800 Jahre alt ist, überrascht der Text durch seine Verständlichkeit und die im wahrsten Sinne des Wortes fabelhafte Ausführung eines sehr prägnanten Konflikts: Iwein hat gegenüber seiner Frau sein Versprechen gebrochen. Er war zu spät und muss ihre Gunst zurückgewinnen. Die Entscheidungen des Helden bleiben also stets nachvollziehbar und die Identifikation mit Iwein ist trotz des mehrere Jahrhunderte großen Abstands von Held und Leser stets gegeben. Doch gleichzeitig wird seine Mission, sich zu rehabilitieren, durch Drachen, Ritter und scheinbar ausweglose Notsituationen ausgeschmückt.
Die Abenteuer des charmant-chaotischen Iwein bilden so eine der spannendsten Handlungen der gesamten Literatur vor der Renaissance, die sich problemlos mit zeitgenössischen Helden wie Harry Potter oder Spiderman messen könnten.
Ein mittelalterlicher Roman wie der Hartmanns bietet vor allem aber ein Fenster in die Vergangenheit und lässt uns gewahr werden, dass die Geschichten, die bis heute im Hollywood-Kino oder in Kriminalromanen erzählt werden, sich im Grunde nicht geändert haben. Nach wie vor geht es um Ehre, Scheitern oder Liebe. Noch immer sitzen wir gern um einen Geschichtenerzähler – sei dieser nun durch das Theater oder den Fernseher verkörpert – und lassen uns verzaubern wie schon vor hunderten von Jahren. Somit lässt der „Iwein“ seinen Leser für einen Moment inne halten, inmitten einer Welt, die viel schneller und verwirrender geworden ist, und ermöglicht, sich ganz in die Anfänge der eigenen Kultur zu versenken. Werke wie der „Iwein“ zeigen uns, dass sich zwar vieles geändert hat, die Menschen aber letztlich die gleichen geblieben sind.