Der galizische Jude Schmuel Josef Czaczkes, besser bekannt als Samuel Agnon, wurde sechsmal für den Nobelpreis nominiert, ehe ihn das Nobelpreiskomitee dieser Auszeichnung würdig erachtete. Das war im Jahre 1966. Nur wenige Monate zuvor hatte der Manesse Verlag in seiner Bibliothek der Weltliteratur eine neue Übersetzung der bedeutendsten Erzählungen Agnons vorgelegt. Zufall? Nein, in Palästina tobte der Kampf ums Wasser.
Israel leitete damals große Mengen des Jordanwassers in sein eigenes Kanalsystem, um seine ausgedehnte Landwirtschaft damit zu versorgen. Das beantworteten die umliegenden arabischen Staaten mit dem Versuch, zwei Quellströme des Jordan umzuleiten, bevor sie auf israelisches Territorium gelangten. Natürlich wehrten sich beide Seiten. Natürlich schlugen beide Seiten zurück. Bewaffnete Grenzüberfälle mit militärischen und zivilen Opfern waren an der Tagesordnung, und in ganz Europa diskutierten die Intellektuellen, ob Israel, ob die Araber im Recht seien.
Und da beschloss das Nobelpreiskomitee (und kurz zuvor die Redaktion des Manesse Verlags), dass es Zeit sei, die Welt daran zu erinnern, warum die Briten den Juden einen eigenen Staat zugeteilt hatten. Die Preisverleihung lenkte die Aufmerksamkeit der (westlichen) Welt auf die Geschichten eines galizischen Juden, der sowohl das kleine Schtetl seiner Kindheit, als auch die Armut Palästinas zur Zeit des Zionismus' schilderte.
Artikeltext:
Das jüdische Gesetz: Herrscher oder Tyrann?
Es gab genug Gründe für die Juden des beginnenden 20. Jahrhunderts, sich aus ihrem heimatlichen Schtetl hinaus ins Gelobte Land Palästina zu sehnen. Viele der Gründe hingen mit dem Kapitalismus zusammen und mit all den Konflikten, die entstanden, wenn ein frommer Jude die Gesetze einer kapitalistischen Weltordnung befolgen sollte.
Samuel Agnons Geschichten sind keine nette Lektüre kurz vor dem Einschlafen. Sie schildern eine untergehende Welt, in der die alten Gesetze und Werte sich änderten, schneller als das diejenigen konnten, die diese Gesetze befolgten und ihre Werte teilten.
Agnons zentrales Thema sind die 613 Mizwot, die ein rechtgläubige Jude zu erfüllen hat, um in den Augen Gottes wohlgefällig zu sein. Sie geben ihm Halt, geben ihm Orientierung, aber sie hindern ihn auch daran, zu einem Teil der modernen Welt zu werden. Was zum Beispiel soll eine fromme Jüdin machen, wenn ein strenger Rabbi ihr erklärt, dass der Weg zu ihrer Schwester zu viele Schritte zählt, um sie an ihrem einzigen freien Tag, dem Sabbath, zurücklegen zu dürfen? Samuel Agnon erzählt in seiner Geschichte "Zwischen zwei Städten", welches Leid das unbedachte Urteil des Rabbi über zwei kleine Städte bringt, deren Bewohner fortan eine quasi unüberwindliche Entfernung trennt.
Armut und Bedrängnis, nicht nur durch die eigenen Sitten und Gebräuche, sondern auch durch eine verständnislose Obrigkeit und gleichgültige Mitbürger, das war der Alltag des Schtetls. Kein Wunder, dass sich in "Im Herzen der Meere" eine kleine Schar hoffnungsvoller Auswanderer zusammentut, um - wie damals so viele - ins Gelobte Land zu ziehen. Da ist der Rabbi und der Schächter, der Metzger, der Kinderlehrer und die Korallenverkäuferin. Sie und noch viele andere bereiten sich vor, ins Land ihrer Väter auszuwandern. Schritt für Schritt begleitet sie Agnon auf ihrem Weg. Er kennt ihn genau. Denn er hat ihn selbst im Jahr 1908 beschritten. Und so erzählt Agnon aus eigener Erfahrung von den Ängsten und Hoffnungen, aber auch von all den gewinnorientierten Kleinunternehmern, die aus der Auswanderung ein gutes Geschäft gemacht haben. Er konfrontiert die Frömmigkeit mit einer materialistischen Welt. Seine geradezu biblische Sprache schildert die Freude, aber auch die Desillusionierung unserer Reisenden, weil das reale Jerusalem nichts mit der Goldenen Stadt ihrer Träume zu tun hat.
Geschichten, die weh tun
Samuel Agnon erzählt, ohne zu werten. Er reiht Begebenheit an Begebenheit und überlässt es dem Leser, sich die Schrecken vorzustellen, die mit dem Geschehen verbunden sind. Und der Leser kann nicht anders: Er stellt es sich vor, windet sich vor Widerwillen, will das Buch gar aus der Hand legen, weil er die gläubige Schicksalsergebenheit der Protagonisten nicht mehr erträgt.
So zum Beispiel in der Geschichte "Und das Krumme wird gerade". Sie handelt vom Kleinkrämer Menasche Chajim in Butschatsch, eben jenem Butschatsch, in dem Samuel Agnon selbst geboren wurde und aufwuchs. Menasche und seine Frau Kreindel verlieren ihren gut gehenden Laden, weil ein besser situierter Konkurrent ihn begehrt, und weil die Regeln des Kapitalismus einen Laden demjenigen zusprechen, der mehr dafür zahlen will und kann.
Menasche und Kreindel wollen, aber sie können nicht. Doch statt sich den Regeln des Geldes zu beugen, mühen, plagen und ruinieren sie sich, um das Geld für den Mietzins aufzubringen. Dabei geht ihr Kapital drauf. Und da sitzen sie nun, wissen nicht, wie sie jetzt ihren Lebensunterhalt verdienen sollen. Kreindel, die aktivere der beiden, schickt ihren Mann zum Rabbi. Der schreibt dem Bankrotteur nach Recht und Sitte einen Empfehlungsbrief. Damit soll Menasche durch Galizien ziehen und von den frommen Juden eine milde Gabe erbitten. Sie wird ihm und seiner Frau einen bescheidenen Neuanfang ermöglichen.
Doch Menasche ist stolz, zu stolz. Er kann nicht betteln. Er bringt es nicht einmal über sich, den Empfehlungsbrief potentiellen Geldgebern zu zeigen. Stattdessen wandert er von Stadt zu Stadt, lässt sich zum üppigen Abendessen einladen und unterhält seine Gastgeber dafür mit frommen Anekdoten. Einem wie ihm nutzt auch das beste Empfehlungsschreiben nichts. Und als ein gewiefter Schnorrer es ihm für ein kleines Vermögen abkaufen will, erklärt er sich einverstanden. Überhaupt, ist das nicht die lang ersehnte Chance? Menasche könnte mit dem Geld sein Geschäft wieder eröffnen! Schnell zum Jahrmarkt, um Handelsware zu erwerben! Aber welche? Unentschlossen lässt Menasche sich treiben, geht von Stand zu Stand und landet im Wirtshaus. Dort betrinkt er sich. Ein Dieb nutzt seinen Rausch, stiehlt ihm sein Geld und Menasche bleibt nicht als Hoffnungslosigkeit und Reue.
Doch auch der Schnorrer hat nichts von dem Empfehlungsbrief. Er stirbt nur wenige Tage nach dem Kauf. Fromme Juden finden das Schreiben und verständigen Kreindel vom vermeintlichen Tod ihres Mannes. Sie ist vernichtet. Vorbei die Hoffnung auf eine gesicherte Existenz als Hausfrau von Menasche. Alles gescheitert. Und dann? Wird das Krumme gerade?
Nun, Kreindel hat Glück. Ein tüchtiger Mann verliebt sich in die Witwe, heiratet sie, bietet ihr Sicherheit und eine Stellung in der jüdischen Gesellschaft des Schtetls. Endlich kein Hunger mehr! Endlich wieder die Achtung der Nachbarn! Die Ehe wird sogar mit einem Kind gesegnet, anders als der Bund mit Menasche. Dem hat sie nie den Sohn schenken können, der ihm das Kaddisch, das Totengebet spricht. Doch in der Nacht der Geburt, in der das ganze Schtetl auf Kosten des Kindsvaters vor dem Haus der Wöchnerin isst und trinkt, kehrt Menasche nach Hause zurück.
Was soll er tun? Er ist fromm und für ihn steht das Gesetz an oberster Stelle. Aber welches der einander widersprechenden Gesetze soll er beachten? Das eine Gesetz verbietet ihm, die untreue Frau je wieder zu berühren. Das andere verurteilt die Ehebrecherin zu ewiger Strafe. Sich erkennen zu geben, bedeutet nach jedem jüdischen Gesetz für sie beide nur Schande, Armut und Hoffnungslosigkeit. Und so macht Menasches Entscheidung, nichts zu tun, das Krumme gerade. Durch seinen Verzicht schenkt er seiner Frau die von ihr so heiß begehrte Sicherheit. Und der Leser ist ihm dankbar dafür. Die ewige Strafe Gottes, die Menasche für Kreindel fürchtet, daran vermag man heute nicht mehr so recht zu glauben.
Die Hoffnung auf Erlösung bleibt
Und so sind die Protagonisten Agnons, die es tatsächlich schaffen, jüdisches Gesetz und materialistische Welt zu vereinbaren, eher Engel als reale Gestalten. Nehmen wir die wunderbare Tehilla aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, in der Samuel Agnon so ganz nebenbei das Elend der jüdischen Auswanderer in der Jerusalemer Altstadt schildert. Denn viele, die ausgewandert sind, leben in Armut, in verfallenen Hinterhöfen, die zu Wucherpreisen an jüdische Siedler vermietet werden. Sie finden keine Arbeit in einem Land, das ihnen fremd ist und in dem es an Solidarität unter den Mitbürgern mangelt. Das schildert Agnon eindrücklich in seiner Geschichte "Der Brief". Sie handelt von einem Reichen des Landes, der gerühmt wird für seine Wohltaten. Doch die sind alle so beschaffen, dass immer er selbst, der Reiche, noch reicher, er, der Berühmte, noch berühmter wird.
Ganz anders Tehilla. Tehilla ist ein sprechender Name. Er bedeutet "Lob und Preis" und tatsächlich ist jede Handlung dieser uralten Frau zum Lob und Preis des jüdischen Gottes. Sie kam als reiche Frau ins Gelobte Land und verschwendete ihr Vermögen, um den Benachteiligten Stütze und Hilfe zu sein. Als ihr Geld aufgebraucht war, verschwendete sie sich selbst und ihre Zeit. Sie geht auf in ihrem Glauben, holt sich aus dem Wissen um einen allgütigen Gott alle Zufriedenheit, alles Glück, alle Hoffnung, die sie für ein erfülltes Leben braucht. Wie sie durch Kummer, Not und Elend wandelt, ist tröstend, aber viel zu schön um wahr zu sein.
All diese Geschichten erinnern uns heute genauso wie im Jahr 1966 daran, dass es einen Grund für den Staat Israel gibt. Dieser Grund ist der europäische Antisemitismus. Der arabische Antisemitismus entstand erst danach, nachdem Europa die überlebenden Zeugen für sein menschliches Versagen nach Israel verschifft hatte.