Hans Christian Andersen, heute so etwas wie ein dänischer Nationaldichter, wird zunächst in sehr arme Verhältnisse als Sohn eines Schuhmachers und einer einfachen Dienstmagd geboren. Sein Leben lang träumt er von Ruhm und Anerkennung, vom sozialen Aufstieg. Mit Eigensinn und Hartnäckigkeit arbeitet er sich durch die Schule und widmet sich als junger Mann ganz dem Schreiben. Im Ausland, besonders in Deutschland, werden seine Werke schnell positiv aufgenommen. Doch lange bleibt ihm diese Anerkennung in seinem Heimatland verwehrt, was ihn zunehmend frustriert. Als 1835 eine Ausgabe mit vier Märchen veröffentlicht wird, findet diese in Dänemark kaum Beachtung. Die geringe Resonanz, die es gibt, lautet er habe wohl Talent, solle es aber nicht auf Kindermärchen verschwenden. Erst mit der Veröffentlichung einer Sammelausgabe seiner Märchen 1843 wird ihm endlich die langersehnte Anerkennung im eigenen Land zuteil.
Wir kennen Andersen durch Märchen wie Die Prinzessin auf der Erbse, Die kleine Meerjungfrau, Des Kaisers neue Kleider, Das häßliche Entlein, Die Schneekönigin oder Die wilden Schwäne. Doch was zeichnet seine Märchen aus? Warum lesen und lieben wir sie heute ebenso wie vor 150 Jahren? Im Nachwort zu der von Manesse herausgegeben Sammlung von knapp 160 Märchen findet Martin Bodmer, dass der dänische Autor es wie kaum ein anderer schafft, „die goldene Mitte zwischen Naivität und Kunst, zwischen Phantasie und greifbarem Leben“ zu halten.
Dieser Naivität und Phantasie widmet sich im Besonderen ein Märchen wie Die Schneekönigin. Hier finden wir auch das bei Andersen so zentrale Motiv des Kindes, ausgezeichnet durch eine ganz besondere Unschuld, Herzensgüte und der unendlichen Fähigkeit zu Liebe und Mitgefühl. So schlägt sich die kleine Gerda ganz alleine durch die Welt, nimmt es mit Räubern und Hexen auf, nur um ihren liebsten Spielkameraden Kay zu retten, den die herzenskalte Schneekönigin verzaubert hat.
Das „greifbare Leben“ hingegen finden wir in Märchen wie Der kleine Klaus und der große Klaus oder in Unterschiede müssen sein. Sie verbindet ein gemeinsames Interesse an der Ordnung der Gesellschaft, an den Unterschieden zwischen Arm und Reich und an den menschlichen Schwächen wie Dummheit, Eitelkeit oder Neid. In „Unterschiede müssen sein“ geht es beispielsweise um einen eitlen Apfelzweig, der meint er sei etwas Besseres als alle anderen Pflanzen und viel schöner als etwa der gemeine Löwenzahn. Am Ende muss er sich die Vase in der menschlichen Stube doch mit dem Löwenzahn teilen und einsehen, dass in Gottes Schöpfung jedes Wesen auf seine eigene Art schön und nützlich ist.
Manche Erzählungen sind noch „greifbarer“, da sie sich sogar Gegenständen wie Feuerzeug, Teekanne, Koffer, Stopfnadel oder Flaschenhals annehmen. Immer wieder schreibt Andersen über das Kleine und scheinbar Unbedeutende, das Alltägliche, die häusliche Umgebung. Eines dieser Märchen ist ein absolut treffendes Sinnbild für den Biedermeier, der zu Andersens Lebenswelt gehört. Das Geldschwein lässt eine solche Biedermeiersche Stube des Nachts zum Leben auferstehen und die Auswahl der belebten Gegenstände allein spricht für sich: Schaukelpferd, Rohrstock, Reitpeitsche und zwei gestickte Kissen auf dem Sofa, die „reizend und dumm“ sind. Das großartige an dem Märchen: Diese Gegenstände spielen nun „Mensch sein“, halten Teestunde und Verstandesübungen ab. Und damit kehrt Andersen zu dem zurück, was immer im Mittelpunkt seiner Märchen steht: Der Mensch, mit all seinen Stärken und Schwächen.