Wir leben in einer konsumorientierten, schnelllebigen Zeit, in der Meldungen über Ungerechtigkeiten jeglicher Art kurz über soziale Medien geteilt, und dann wieder vergessen werden. So scheint es sehr leicht, sich mit dem Leid anderer auseinander zu setzen und der Illusion zu verfallen, man wüsste über ihre missliche Lage Bescheid. Dass dies jedoch ein Trugschluss ist, werden all jene bemerken, die sich an die Werke von Émile Zola herantrauen.
Émile Zola (1840-1902) schaffte es vor allem mit seinem weltberühmten Roman „Germinal“, die vertrackte Lage der Unterschicht ohne künstlerische Romantisierung darzustellen. Er zeigt darin, was wahre Armut ist und wie die Menschen damit ihr tägliches Leben bestreiten, wenn sie, nur mit einem Butterbrot und einer Kanne Kaffee im Gepäck, stundenlang härteste körperliche Arbeit in einer Mine verrichten müssen.
Der Roman ist Teil des großen naturalistischen Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“, der ab 1871 veröffentlicht wurde und aus stolzen 20 Bänden besteht. In diesem Zyklus versucht Zola darzustellen, wie sehr die Menschen durch ihre Herkunft, ihren sozialen Stand und durch ihre Genetik bestimmt werden - wie wenige Aufstiegsmöglichkeiten sie in Wahrheit haben.
Der Band „Germinal“ erzählt die Geschichte des Maschinisten Étienne Lantier und dessen Erlebnisse in der Bergbausiedlung des Schachtes Le Voreux. Nachdem er dort bei der Familie Maheu untergekommen ist und zu arbeiten beginnt, stellt er bald fest, unter welch schrecklichen Bedingungen die Arbeiter in der Kohlegrube ihr Geld verdienen. Er ist schockiert von den Zuständen in Le Voreux und beginnt, die Menschen im Ort zu einem Aufstand zu bewegen. Jedoch wird dadurch alles nur noch schlimmer, denn nicht alle beteiligen sich an dem Streik, sodass dieser bloß noch in mehr Lohnkürzungen und Leid für die Arbeiter endet. Die Situation eskaliert, bis sich am Ende sogar das Militär einschaltet. Étienne muss schließlich auf bittere Weise lernen, dass sein Idealismus ihn und seine Mitmenschen um kein Stück weiter gebracht hat.
Der Roman ist wahrlich nichts für schwache Nerven. Auf über 800 Seiten schildert Zola das packende Schicksal der Bergarbeiter von Le Voreux, wobei es den Menschen immer schlechter geht, sodass dem Leser nichts übrig bleibt, als weiterzulesen, in der trügerischen Hoffnung, dass es irgendwann besser wird.
Doch genau darin liegt auch die Stärke des Werks. „Germinal“ zieht einen immer tiefer in eine ausweglose Geschichte, ein Labyrinth aus Einzelschicksalen, in dem das moralische Denken des Lesers immer wieder aufs Neue herausgefordert wird. Denn gemeinsam mit Étienne merkt der Leser langsam, dass die Welt nicht einfach aus Guten und Bösen besteht. Stattdessen sind alle verstrickt in ein kaputtes System, aus dem man nicht einfach durch einen kurzen Streik entfliehen kann. Mit anderen Worten: Nicht die Grubenherren sind schuld, das gesamte gesellschaftliche System muss verändert werden.
Diese wertvolle, übergreifende Erkenntnis lässt sich auch heute nicht durch kurze Internetartikel und dergleichen erlangen. Es sind nach wie vor Romane wie „Germinal“, die uns merken lassen, dass wir nicht an punktuellen Problemen arbeiten müssen, sondern dass unser gesamtes gesellschaftliches System zutiefst fehlerhaft ist. Denn die Schere zwischen Arm und Reich scheint im Zuge der Globalisierung immer größer statt kleiner zu werden.
Folglich können und dürfen Romane wie „Germinal“ nicht in den Hintergrund treten. Für eine kritische Reflektion über Ausbeutung bedarf es mehr als eine schockierende Schlagzeile oder ein kurzes Video auf sozialen Medien zu teilen.