Gegner oder Verbündete? Wallace, Darwin und die Evolution
Alfred Russel Wallace publizierte 1869 ein Buch über seine Reise nach Indonesien. Es wurde zum internationalen Bestseller, der noch heute davon zeugt, wie Wallace unabhängig von Darwin seine Thesen zur Evolution entwickelte. Er informierte Darwin bereits 1857 über seine Theorie. Heute gibt es Menschen, die deswegen behaupten, Darwin habe dem unbekannten Kollegen seinen Ruhm gestohlen. Kann das wahr sein?
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Eine Bibliothek lebt von ihren Neuankäufen und den Überlegungen, die ihre Kuratoren zu den neuen Büchern publizieren. So hat uns der Ankauf des wichtigsten Werks von Alfred Russel Wallace beim Berner Antiquariat Daniel Thierstein inspiriert, über das Verhältnis zwischen Russels und Darwin nachzudenken. Beide entdeckten ungefähr gleichzeitig die Evolution und begründeten sie mit einer natürlichen Selektion. Doch während Darwin dafür heute noch gefeiert wird, kannte bis vor kurzem kaum jemand den Namen von Wallace. Das verführte einen Biologen dazu, öffentlichkeitswirksam zu behaupten, Darwin habe dem in wirtschaftlich bedrängten Verhältnissen lebenden Wallace seine Ideen gestohlen. Hat er das wirklich?
Ein zoologisch interessierter Landvermesser
Gerne möchte man den armen Wallace einem superreichen Darwin gegenüberstellen. Aber ganz so einfach ist es nicht. Tatsächlich war der Vater des 1823 in Wales geborenen Alfred Russel Wallace durchaus wohlhabend. Immerhin konnte er es sich leisten, Alfred aufs Gymnasium zu schicken. Doch 1836 geriet die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Alfred musste die Schule verlassen, durfte stattdessen das Handwerk eines Landvermessers erlernen. Das war ein ehrenwerter, einträglicher Beruf, und er verdiente gutes Geld damit. Das Schönste: Seine Tätigkeit ließ ihm Zeit für seine eigenen Interessen.
Als Alfred Wallace den berühmten Entomologen Henry Bates kennenlernte, war es um ihn geschehen. Entomologen sammeln und klassifizieren Insekten, und Wallace war begeistert von diesem Zweig der Zoologie. Inspiriert von den damals weit verbreiteten Reiseberichten, beschlossen er und sein Mentor Bates, nach Brasilien zu gehen, um dort zu forschen.
Doch wie finanziert man eine Forschungsreise, wenn man nicht Charles Darwin heißt und einen reichen Vater besitzt? Das Geheimnis lag im weit verbreiteten Interesse privater Sammler und öffentlicher Museen an zoologischen Präparaten. Während Bates und Wallace in Brasilien forschten, sammelten sie gleichzeitig Präparate, um sie teuer in England zu verkaufen. Bei der Bestimmung der gesammelten Tier und Pflanzen realisierte Wallace, dass der breite Amazonas eine Art geographische Scheidelinie zwischen eng verwandten Arten bildete. In einem Artikel über die Affen des Amazonas, den er nach seiner Rückkehr im Jahr 1852 veröffentlichte, fragte er deshalb: „Sind eng verwandte Arten ... durch einen weiten geographischen Abstand getrennt?“
Die Reise zum Malaiischen Archipel
Bereits zwei Jahre später ging Alfred Russel auf seiner zweite Reise. Ziel war der Malaiischen Archipel. Heute würden wir eher von der Inselwelt Südostasiens sprechen. Er besuchte die großen und kleinen Sundainseln, die Molukken, die Philippinen und Neuguinea. Er sah Ähnlichkeiten zu dem, was er bereits am Amazonas erlebt hatte und was Darwin von den Galapagosinseln kannte: Breite Wasserstraßen trennten die Inseln und das spiegelte sich in der Verbreitung der darauf lebenden Arten, was Russel schnell gemerkt haben dürfte. Schließlich musste er wieder Präparate sammeln, um seine Reise zu finanzieren. Er trat dabei ganz im Stile eines modernen Unternehmers auf und beschäftigte Subunternehmer, um seinen Profit zu vervielfachen. Bis zu 100 einheimische Assistenten sammelten für ihn Präparate, die er mit Gewinn in der Heimat zu verkaufen plante. Am Ende brachte Wallace insgesamt 125.660 Exponate mit nach hause, und zwar 310 Säugetiere, 100 Reptilien, 8.050 Vögel, 7.500 Muscheln, 13.100 Schmetterlinge, 83.200 Käfer und 13.400 weitere Insekten.
Wallace klassifizierte sie alle. Schließlich versprach der Verkauf einer seltenen oder gar unbeschriebenen Art einen wesentlich höheren Profit als das Präparat einer weit verbreiteten Art. Und beim Beschreiben entdeckte er, dass eine zoogeographische Grenze zwischen den Inseln existierte, und zwar bei der Meerenge zwischen Bali und Lombok. Heute wissen wir, dass diese Grenze die asiatische von der australischen Flora und Fauna trennt. Bis zur Wallace Linie konnten australische Arten vordringen. Andere Forscher haben später festgelegt, bis wohin sich die asiatischen Arten verbreiteten, und in welchem Gebiet ein Gleichgewicht zwischen beiden Arten herrscht.
Wallace träumt von Malthus
Was Wallace da konstatierte, war zunächst lediglich eine sehr kluge Beobachtung. Doch Wallace stellte sich die gleiche Frage, die sich Charles Darwin angesichts seines Materials gestellt hatte. Konnte es sein, dass sich die Arten nicht nur durch menschliche Zucht, sondern auf natürliche Art und Weise veränderten? Aber was könnte der Auslöser für diese Veränderung sein? Und noch einmal soll Malthus einen Forscher auf die richtige Spur gebracht haben: Während eines Fieberanfalls, so berichtet Wallace in seiner Autobiographie, wendete er erstmals die These der naturgegebenen Überbevölkerung, wie sie Thomas Malthus postulierte, auf die Evolution an: „Es kam mir damals der Gedanke, dass diese Ursachen oder deren Äquivalente auch im Falle der Tiere ständig am Werk sind und da Tiere sich sehr viel schneller als Menschen vermehren, muss die jährliche Vernichtung aufgrund dieser Ursachen enorm sein, um die Anzahl der Mitglieder jeder Art gering zu halten, da sie offensichtlich nicht von Jahr zu Jahr zunimmt, sonst wäre die Welt von denen übervölkert, die sich am schnellsten vermehren. Unbestimmt über die enorme und konstante Zerstörung nachdenkend, die daraus folgt, stellte sich mir die Frage, weshalb einige sterben und einige überleben. Und die Antwort war klar, die besser geeigneten überleben. Und wenn man die beträchtliche Variation berücksichtigt, die mir meine Erfahrung als Sammler als vorhanden gezeigt hatte, dann folgte daraus, dass sämtliche Veränderungen, die für die Anpassung der Arten an die sich verändernden Bedingungen erforderlich sind, davon hervorgebracht werden. Auf diese Weise könnte jeder Teil des Aufbaus der Tiere genau wie erforderlich verändert werden und im Prozess dieser Veränderungen würden die Nichtveränderten aussterben und so würden die definierten und klar isolierten Merkmale jeder neuen Art erklärt werden.“
Darwin versus Malthus
Gemäß seiner eigenen Aussage, kam Alfred Russel Wallace diese Idee im Frühjahr 1858. Am 9. März des gleichen Jahres hatte er sie in einen Artikel verpackt, den er an Charles Darwin schickte, mit dem er seit längerem korrespondierte. Wallace bat Darwin, diesen Artikel zur Veröffentlichung weiterzuleiten, wenn er ihn für dessen wert erachtete. Darwin, der das Schreiben im Juni erhielt, leitete es an seine Freunde weiter. Er selbst hatte für diese Angelegenheit gerade gar keinen Kopf: Sein jüngster Sohn war an Scharlach erkrankt und binnen weniger Tage gestorben.
So übernahmen die Freunde von Charles Darwin. Sie stellten am 1. Juli des Jahres 1858 während einer Sitzung der renommierten Londoner Linné-Gesellschaft die Arbeiten von Wallace und Darwin gleichzeitig vor. Damit waren die Thesen der Evolution und der natürlichen Selektion in der Welt.
Alfred Russel in England
Als Alfred Russel im Jahr 1862 nach England zurückkehrte, sprach die ganze naturwissenschaftliche Welt über die Evolution. Nicht wegen der Präsentation vor der Linné-Gesellschaft, sondern weil Charles Darwin das über Jahrzehnte hinweg gesammelte Beweismaterial zu seiner Theorie 1859 in einem umfassenden Werk publiziert hatte. Wir sprechen hier von dem weltberühmten Buch On the Origin of Species, das wir in der vergangenen Ausgabe vorgestellt haben.
Russel scheint deswegen nicht beleidigt gewesen zu sein. Im Gegenteil: Er entwickelte sich zu einem der glühendsten Vorkämpfer des Darwinismus. Er wendete bereits 1864 die Evolution auch auf den Menschen an. In seinem Artikel The Origin of Human Races and the Antiquity of Man Deduced from the Theory of Natural Selection (Ursprung der menschlichen Rassen und Alter des Menschen, gefolgert aus der Theorie der natürlichen Selektion) überschritt er erstmals die Kluft zwischen Mensch und Tier. Kein Wunder; während seiner Reisen hatte er viele verschiedene Arten von Affen kennengelernt, auch den Oran Utan, den wir heute zu den so genannten „Menschenaffen“ zählen.
Die Publikation: Der Malaiische Archipel
Der Verkauf seiner Präparate hatte Alfred Russel reich gemacht. Nun konnte er es sich leisten zu heiraten und durfte erwarten, von seinem Vermögen für den Rest seines Lebens zu zehren. Dazu entwickelte sich sein Buch über die Reise zum Malaiischen Archipel zu einem Bestseller. The Malay Archipelago: The Land of the Orang-utan And The Bird Of Paradise. A Narrative Of Travel, With Studies Of Man And Nature war genau das, was in der viktorianischen Ära bestens ankam. Das Charles Darwin(!) gewidmete Buch erzählte in einer äußerst lebendigen Sprache nicht nur von Geographie, Flora und Fauna, sondern auch von exotischen Menschen und den Erlebnissen des Forschers.
Wallace verfasste eine wunderbare Kombination von abenteuerlichem Reisebericht und naturwissenschaftlichem Lehrbuch. Jeder konnte sich das herauspicken, was ihn am meisten ansprach. Die einen waren fasziniert von der Vielfalt der Käfer und Schmetterlinge. Die anderen freuten sich über spannende Geschichten. Da erlebte Wallace ein Erdbeben vor Ort oder entfernte einen riesigen Python eigenhändig vom Dach seiner Hütte. Staunend las man in den europäischen Salons die Geschichte von Thomas Stamford Raffles, der 1819 Singapur gründete, oder von der Begegnung des Forschers mit James Brooke, dem weißen Raja von Sarawak im Norden Borneos.
Nach einleitenden Bemerkungen zu Geographie und Geologie handelte Wallace alle Inseln systematisch nacheinander ab. Illustriert waren seine Berichte von den besten verfügbaren Künstlern. Ihre Graphiken wurden immer wieder verwendet, als der Roman sich zu einem der populärsten Werke des 19. Jahrhunderts entwickelte: Die englische Version erlebte zehn Auflagen und noch mehr Reprints. Übersetzt wurde sie in mindestens zwölf Sprachen. Die erste deutsche Version aus der Feder des damals bekannten Zoologen Adolf Bernhard Meyer erschien bereits im Jahr der englischen Erstpublikation, also 1869.
Im Schatten oder im Schutz Darwins?
Doch damit war der Höhepunkt in der Karriere von Wallace leider schon überschritten. Er traf eine Reihe von Fehlentscheidungen, die ihn der Achtung der bürgerlichen Welt beraubten. Da war zunächst sein Eintreten für den Spiritismus, das ihm vor allem seine wissenschaftlichen Kollegen sehr übel nahmen. Dann verlor Wallace praktisch sein gesamtes Vermögen, weil er in die falschen Aktien investiert hatte. Und zu allem Überfluss schloss er sich auch noch den Sozialisten an. 1881 wählte ihn die Land Nationalization Society zu ihrem Präsidenten, um den Kampf für die Enteignung der reichen Landbesitzer voranzutreiben.
Wallace hatte sich so unbeliebt gemacht, dass es ihm nicht gelang, eine durchaus angemessene Regierungsrente für wissenschaftliche Verdienste zu erhalten. Dieses sichere Einkommen verschaffte ihm erst Charles Darwin, der all seine Autorität in die Waagschale warf, um dem Kollegen ein würdiges Alter zu ermöglichen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Alfred Russel Wallace hielt noch zahlreiche Vorträge, schrieb noch viele Artikel und einige Bücher, und zwar nicht nur über naturwissenschaftliche Themen, sondern auch über die sozialen Fragen seiner Zeit. Er starb 1913 im Alter von 90 Jahren.
Die Presse widmete ihm zahlreiche Nachrufe und sogar der Wunsch, auch ihn in der Westminster Abbey zu bestatten, wurde laut. Doch seine Frau wollte ihn auf dem kleinen Friedhof seiner Heimatstadt zur letzten Ruhe betten. Nichtsdestotrotz gründeten einige Wissenschaftler einen Ausschuss, um zu Ehren von Wallace eine Gedenktafel in der Nähe von Darwins Grab anzubringen. Sie wurde am 1. November 1915 enthüllt.
Und warum glaubt man nun, Darwin hätte Wallace seine Ideen gestohlen?
Seine Zeitgenossen wären nie auf die Idee gekommen, Darwin und Wallace seien Konkurrenten gewesen. Diese These stellte der amerikanische Biologe John Langdon Brooks in einem 1984 publizierten Buch auf. Er stützte sich auf den Briefwechsel, den Wallace und Darwin geführt hatten, während Wallace noch auf dem Malaiischen Archipel seine Theorien entwickelte. Ihm erschien es unfair, dass die Gegenwart, Wallace vergessen hatte, und so versuchte er, die Reputation seines Helden zu vergrößern, indem er Darwin herabwürdigte.
Die Presse nahm diese Theorie natürlich begeistert auf: Nichts tut sie derzeit lieber, als einen großen Mann von seinem Podest zu stürzen.
Doch die Wahrheit sieht anders auf: Zwei Männer entwickelten unter ähnlichen Bedingungen ähnliche Ideen. Sie verbündeten sich und setzten diese Ideen gemeinsam in der wissenschaftlichen Welt durch. Wer diese Idee zuerst formuliert hatte, war ihnen nicht so wichtig wie uns. Und in der Tat ist es ja oft nicht entscheidend, wer etwas als erster gesagt hat. Viel wichtiger ist derjenige, der uns mit seinen Argumenten von der Richtigkeit einer Theorie überzeugt. Und da hat Charles Darwin die bessere Arbeit geleistet als Alfred Wallace.