Anything goes – nie war dieses Motto aktueller als heute. Unsere westliche Welt kennt einen unglaublichen Facettenreichtum von Lebensentwürfen: Hippie oder Hipster, mit Kindern oder ohne, homo-, hetero- oder metrosexuell. Sie können in Trainingsklamotten im Büro sitzen, Ihr Beruf mag noch so ausgefallen sein – den Anderen ist es wahrscheinlich egal. Kaum eine Zeit scheint uns da ferner zu liegen, als das Wien um 1900.
Einerseits war Wien die Kulturmetropole der Zeit schlechthin, andererseits stürmten die gutbürgerlichen Frauen das Wartezimmer eines gewissen Dr. Freud, getrieben von ihren unterdrückten Gefühlen und ihren verständnislosen Ehemännern. Nach jahrelangem Studium hatte Freud die Methode der Psychoanalyse entwickelt. Nicht ohne Neid musste er allerdings anerkennen, dass ein schriftstellernder Arztkollege die Leiden der Wiener, der Frauen vor allem, durch seine aus „feiner Selbstwahrnehmung gezogenen Schlüsse“ noch stimmiger fasste als er, Freud, selbst. Dieser Kollege war Arthur Schnitzler (1862-1931).
Wenn Sie kein James-Bond-Typ, aber auch kein Psychopath sind, dann erkennen Sie sich vielleicht eher in einer von Schnitzlers Hauptfiguren wieder. Im Zentrum seiner Geschichten, insbesondere der Erzählungen, von denen der Manesse-Band eine Auswahl vorstellt, stehen „normale“ Menschen, Durchschnittsfiguren, Personen, wie sie in Schnitzlers HNO-Praxis Rat gesucht haben könnten. Von aussen betrachtet wirken ihre Alltagsleiden meist unauffällig, der Betroffene aber müht und quält sich ab mit ihnen. Und wenn wir die Probleme anschauen, mit denen diese Helden des Alltags kämpfen, entdecken wir erstaunt: Dieselben Themen finden wir noch heute in Gesprächen, in Zeitschriften, Zeitungskolumnen, Webblogs … Es geht um die Rolle der Geschlechter in der Gesellschaft, um Ehebruch und Affären, an denen glückliche Familien zerbrechen, um das Ausleben von Wünschen, die wir uns nicht eingestehen möchten, um das Spannungsverhältnis zwischen schicksalhafter Fügung und freiem Willen, in dem auch wir Heutigen uns oftmals eingeklemmt fühlen. Schnitzler litt selbst unter solchen Problemen: eine gescheiterte Ehe, eine dadurch traumatisierte, innig geliebte Tochter, die sich das Leben nimmt, das allgemeine Desinteresse an seinem künstlerischen Schaffen, weil er sich 1914 gegenüber der Kriegstreiberei verwehrt hatte. So machte der Autor seine Erfahrungen, auch mit Frauen, die er immer wieder liebte – und möglicherweise besser verstand als jeder andere in Wien.
Schnitzler kritisierte Freuds binäres System von Ich und Über-Ich als „Flucht aus der chaotischen Wahrheit … in den trügerischen Trost einer willkürlich geordneten Welt“. Bei Schnitzler ist nichts geordnet, alles schwirrt in den Köpfen seiner Figuren, die ihre Gedankengänge in ausführlichen inneren Monologen vor dem Leser ausbreiten. Zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur legt der Autor auf diese Weise das „Halbbewusste“ seiner Charaktere offen, diese Ebene zwischen Freuds Extremen. Wir erfahren von ihren inneren Zweifeln, ihrer Zerrissenheit und ihren Unsicherheiten, all den kleinen Lebenslügen. Und oftmals liegt bei Schnitzler auch die Lösung zwischen den Extremen. In seiner berühmten Erzählung „Traumnovelle“ träumt Sie verschämt vom Ausleben ihrer Lüste, Er lebt in einem besonderen Moment eine Affäre tatsächlich aus. Am Ende spürt das Ehepaar, wie beide aus diesen Erfahrungen lernen müssen, damit ihre Beziehung nicht zerbricht, sie akzeptieren ihre Bedürfnisse so gut es geht in ihrem normalen Alltag. Eine Kurzanleitung für ein glückliches Leben auch im 21. Jahrhundert, könnte man meinen.