Ein neuer Weg zu Gott: Wie Descartes die Menschen das Zweifeln lehrte
Ein schrecklicher Religionskrieg; Millionen von Toten; unvorstellbare Grausamkeiten auf allen Seiten: Wie reagiert ein denkender und gleichzeitig tief gläubiger Mensch? Er sucht nach einem neuen Weg zu Gott, der weder mit der katholischen, noch mit der protestantischen Kirche zu tun hat. Wie Descartes bei seiner Suche nach einem neuen Gottesbeweis die moderne Philosophie beeinflusste, davon handelt dieser Artikel.
Artikeltext:
2023 konnte das MoneyMuseum in Zürich seinen Bestand an Werken von René Descartes beträchtlich erweitern. Es kaufte im Frankfurter Antiquariat Tresor am Römer ein Buch, in dem seine wichtigsten philosophischen Schriften zusammengebunden sind. Für uns ist das ein schöner Anlass, einige Aspekte zum Werk dieses Autors auf ihrem historischen Hintergrund zu erläutern.
Kleinadel, Kleine Eiszeit und der Staatsdienst
René Descartes wurde am 31. März 1596 als jüngstes Kind einer kleinadligen Familie geboren. Sein Vater hatte im Staatsdienst Karriere gemacht. Damit sicherte er das familiäre Einkommen. Das war für den niederen Adel nicht selbstverständlich. Der blutige Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Hugenotten hatte die französische Wirtschaft ruiniert. Das Edikt von Nantes wurde erst zwei Jahre nach der Geburt von René Descartes erlassen. Dazu litt die Landwirtschaft unter den Folgen des Klimawandels der Kleinen Eiszeit. Es lag also nahe, dass Vater Descartes entschied, dass sein Sohn eine Ausbildung erhalten sollte, die ihm den Weg in den Staatsdienst ebnen würde. Er schickte ihn auf das neu gegründete Jesuitenkolleg Henri-IV de La Flèche.
Eine exquisite Ausbildung bei den Jesuiten
Das war ein großes Glück für den kleinen René. Denn die Jesuiten hatten die Schule geradezu revolutioniert. Bei ihnen gab es kein stures Auswendiglernen von lateinischen Verben mit Prügelstrafen, wenn ein Kind nicht schnell genug begriff. Die Jesuiten wollten Freude am Wissen vermitteln, integrierten Exkursionen und Experimente in den schulischen Alltag. Natürlich standen immer noch die sieben freien Künste im Mittelpunkt: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, dazu Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Aber die Art, wie dies gelehrt wurde, war neu. Die Kinder wurden ermutigt, selbst zu denken und Fragen zu stellen.
Natürlich kam der Glaube dabei nicht zu kurz, aber ein Jesuit überzeugte, statt zu indoktrinieren. Wer das Jesuitenkolleg erfolgreich absolviert hatte, kannte nicht nur die Heilige Schrift, sondern wusste auch, wie man sich eine eigene Meinung bildet. Ein Großteil der katholischen Oberschicht vertraute ihren Nachwuchs den Jesuiten an. Das Ergebnis waren kompetente Herrscher, die den Staat in den nächsten Jahrzehnten neu denken sollten.
Im erst 1603 gegründeten Jesuitenkolleg Henri-IV de La Flèche wuchs also eine neue Elite heran. Descartes gehörte dazu. Er ging nach Abschluss seiner Ausbildung nach Poitiers, wo er das Bakkalaureat und das Lizentiat in kanonischem und weltlichem Recht ablegte. Danach schickte ihn sein Vater nach Paris, und dann passierte das, was oft passiert, wenn ein 20-jähriger auf sich gestellt in einer quirligen Großstadt lebt.
Schwert statt Schreibpult
René Descartes fand die allgegenwärtigen Soldaten mit ihren Degen und Musketen wesentlich aufregender als jeden Beamten. Er eignete sich die Grundlagen des Kriegshandwerks an und verdingte sich 1618 beim reformierten Moritz von Nassau, der in den Niederlanden gegen die spanischen Habsburger kämpfte.
Dort entdeckte Descartes seine Begabung für die Mathematik. Schließlich herrschte überall ein Mangel an fähigen Ingenieuren, um Kriegsmaschinen und Befestigungen zu konstruieren. Ingenieure waren hoch bezahlt. So eignete sich Descartes die Grundlagen der angewandten Mathematik an und wechselte 1619 die Fronten: Er trat in den Dienst des katholischen Maximilian von Bayern.
Unter seinem Kommando zog er nach Prag, um im kaiserlichen Auftrag die Tschechen und ihren kalvinistischen Winterkönig zu besiegen. Descartes nahm persönlich an der Schlacht am Weißenberg teil und an der anschließenden Eroberung Prags im Jahr 1620. Wir wissen nicht, was er dort erlebte. Wir können annehmen, dass er Dinge sah, die ihn verstörten. Denn was wir wissen, ist, dass Descartes sich danach vom Kriegshandwerk fernhielt. Er soll, wenn wir seinen Biographen glauben, eine Art Erweckungserlebnis gehabt haben, dass er die ewige Wahrheit fortan nur noch aus eigenen Erfahrungen schöpfen wolle. Zum Dank für diese Erleuchtung pilgerte er zum Haus Mariens in Loreto.
Feder statt Schwert
Und so reiste René Descartes erst einmal durch Europa, machte eine Grand Tour durch die reformierten Niederlande, die gemischtkonfessionelle Schweiz und das katholische Italien. Die Grand Tour galt zu seiner Zeit als Krönung der Ausbildung jedes Adligen, auch wenn die Route normalerweise streng nach der Konfession des Reisenden festgelegt wurde. Descartes tat das nicht. Er, der Abkömmling einer streng katholischen Familie, begegnete Intellektuellen aller Konfessionen.
Der Verkauf von Landbesitz nach seiner Rückkehr gab ihm die finanzielle Freiheit, ohne Geldsorgen über sich, Gott und die Welt nachzudenken und vor allem darüber, welche Rolle die Kirchen im Glauben spielten sollten.
Descartes schrieb eine Reihe von epochalen Werken. Wir beschäftigen uns in diesem Text mit den Meditationes de Prima Philosophia. Sie erschienen erstmals 1641 in lateinischer Sprache. Wir besitzen eine postum erschienene Ausgabe von 1698. Mit den Meditationes führte Descartes nicht nur den Zweifel in die Wissenschaft ein. Er postulierte auch eine völlig neue Form von Religion, die ohne eine konfessionell organisierte Obrigkeit auskam. Sie ermöglichten es einer intellektuellen Elite, die von den Religionskriegen desillusioniert war, weiterhin an Gott und eine unsterbliche Seele glauben zu können, ohne den Umweg über eine Kirche nehmen zu müssen.
Meditationes oder Gedankenspiele
René Descartes Buch heißt - in Übersetzung aus dem Lateinischen - Meditationen über die erste Philosophie, in denen die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seelen bewiesen wird. Es wurde bereits 1647 ins Französische übersetzt und ist seit seiner Erstpublikation immer wieder aufgelegt worden. Noch heute gehören die Meditationes zu den Texten, die ein Philosophiestudent gelesen haben muss.
Meditationes: dieser Begriff hat nichts mit dem zu tun, was wir heute unter einer Meditation verstehen. Es geht vielmehr um ein philosophisches Gedankenspiel. Descartes fasst in seinem Vorwort zusammen, was den Leser erwartet: Er will in Frage stellen, ob ein Beweis der Existenz Gottes mit Hilfe von Wahrnehmung und Vorstellung überhaupt geführt werden kann. Schließlich können wir uns täuschen und müssen deshalb alles in Zweifel ziehen. Doch jenseits des Zweifels ist es wenigstens sicher, dass der Zweifelnde existiert. Hier kommt das berühmte Cogito ergo sum ins Spiel. Und da Gott vollkommen ist, hat er den Menschen so geschaffen, dass er nicht nur zweifeln, sondern auch erkennen kann. Ging das zu schnell? Gut, dann langsam, Gedankenspiel für Gedankenspiel.
1. Gedankenspiel: Was man in Zweifel ziehen muss
Es gibt viele Dinge, die Menschen glauben und die trotzdem falsch sind. Liegt das daran, dass unsere Sinne uns grundsätzlich täuschen? Ein allmächtiger Gott könnte uns schließlich so geschaffen haben, dass auf unsere Sinne kein Verlass ist. Oder noch schlimmer, ein böser Geist beeinflusst unsere Gedanken, so dass wir nur zu falschen Schlüssen kommen können. Es muss also alles erst einmal in Zweifel gezogen werden, das ist die Schlussfolgerung des ersten Gedankenspiels.
2. Gedankenspiel: Wie unser Verstand beschaffen ist
Wie ist nun unser Verstand beschaffen, dass er solche Zweifel hegen kann? Descartes beantwortet die Frage in fünf Schritten:
1. Schritt: Die realen Dinge außerhalb von uns selbst sind uns nur indirekt über unsere Sinne zugänglich. Deshalb entstehen unsere Vorstellungen in uns selbst.
2. Schritt: So können die reinen Vorstellungen beeinträchtigt werden durch vorgeformte Bilder, Erinnerungen, Täuschungen, Konzepte, den Glauben, Absichten und vieles mehr.
3. Schritt: Unsere Vorstellung von einer Sache und die Sache selbst sind also voneinander unabhängig.
4. Schritt: Unsere Vorstellung kann die Realität richtig oder falsch wiedergeben.
Damit entkoppelt Descartes den Menschen von der Welt. Es braucht eine Brücke, um die beiden Pole wieder zusammenzuführen.
Und so folgt der 5. Schritt, das berühmte Cogito ergo sum. Denn gleich ob der Mensch sich täuscht oder nicht: Solange er beim Denken getäuscht werden kann, existiert er. Damit ist die Existenz des Denkenden über alle Zweifel erhaben. Descartes formuliert es so: „Aber was bin ich dann? Ein denkendes Ding? Und was ist das? Etwas das zweifelt, versteht, bestätigt, verneint, will, ablehnt, auch mit seinen Sinnen wahrnimmt und Bilder im Kopf hat.“
Mit anderen Worten: Descartes begreift den Menschen nicht als Ansammlung von Körperteilen, sondern als das, was in uns denkt. Er spricht deshalb über die res cogitans.
3. Gedankenspiel: Über die Existenz Gottes
Was für Folgen hat es nun, dass der Mensch in der Lage ist zu denken? Descartes gibt zunächst eine Systematik der Ideen, die ein Mensch entwickeln kann:
- Ideen, die auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen
- Ideen, die unsere Einbildungskraft erzeugt
- die so genannten eingeborene Ideen, die in allen Menschen angelegt sind
Gott, so postuliert Descartes, gehört zu den eingeborenen Ideen. Er bietet dafür zwei Beweise, die wir uns sparen. Wir würden sie nicht für so unwiderlegbar halten, wie Descartes es tat. Er sollte zeitlebens von der Existenz Gottes überzeugt sein. Aber er benötigte ihn nicht mehr, um von seinen Sünden erlöst zu werden und ins Paradies zu gelangen. Damit beseitigte Descartes den wichtigsten Streitpunkt zwischen den christlichen Konfessionen. Seine Thesen machten den Jahrhunderte alten Streit, welches Verhalten zur Erlösung führt, überflüssig.
4. Gedankenspiel: Über wahr und falsch
Doch wenn ein allmächtiger, gütiger Gott existiert, wie kann es da Irrtümer geben? Descartes begründet sie mit der Freiheit, die Gott seinen Geschöpfen schenkt. Genauso wie der Mensch über die Freiheit verfügt, statt des Guten das Schlechte zu tun, kann er statt des Richtigen das Falsche glauben.
5. Gedankenspiel: Gott und die reale Welt
Als sei er sich doch nicht ganz sicher, beweist Descartes gleich noch einmal die Existenz Gottes. Er führt ihn als Quelle der Vernunft ein. Deshalb kommt alle Erkenntnis, die klar und bestimmt ist wie die Mathematik, direkt von Gott.
6. Gedankenspiel – Teil 1: Seele und Körper
Die materielle Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit unserem Verstand begreifen, existiert also, weil der allmächtige Gott fähig ist, sie zu schaffen. Und damit hat Descartes seine Ausgangsthese für das nächste Gedankenspiel:
Wenn Gott Dinge schaffen will, die voneinander unabhängig sind, kann er das tun. Die res cogitans, also die Vernunft – oder sagen wir hier Seele – funktioniert ohne Körper. Der Körper ist nur eine zusätzliche Sache, eine res extensa. Da Gott den Körper unabhängig von der Seele schaffen kann, ist die Seele vom Körper unabhängig und kann ohne Körper existieren. Und so beweist Descartes die Unsterblichkeit der Seele, die den Körper nicht braucht, um zu existieren.
6. Gedankenspiel – Teil 2: Vernunft, Körper und die reale Welt
Warum kann nun diese Seele ein korrektes Bild von der realen Welt entwerfen, so dass wir alle Zweifel, die Descartes im ersten Gedankenspiel geschürt hat, ad acta legen dürfen?
Dafür postuliert Descartes, dass die menschliche Vernunft eine starke Neigung habe, an die Realität der Sinneswahrnehmung zu glauben. Dies lässt ihn schlussfolgern, dass Gott selbst den Menschen so geschaffen habe. Wären nun die Sinneswahrnehmungen falsch, müsse Gott böse sein, weil er uns täuschen will. Dies kann aber nicht sein, weil Gott gut ist. Und damit sind wir in der Lage, die reale Welt korrekt wahrzunehmen und richtig zu deuten.
Gefährliches, aber zukunftsträchtiges Gedankengut
Nur ein paar müßige Gedankenspiele, die man schnell wieder vergessen darf? Nein, mit seiner Argumentation wirkte Descartes zentral am Weltbild der Aufklärung mit. Er zeigte den Naturwissenschaftlern, wie groß die Gefahr ist, sich durch die eigenen Vorurteile täuschen zu lassen. Er gab ihnen aber auch das Vertrauen zurück, dass es dem Menschen möglich ist, ganz ohne göttliche Offenbarung, also aus sich selbst heraus zur Wahrheit vorzudringen.
Am meisten Sprengstoff enthielt natürlich das neue Gottesbild, das Descartes in seinen Meditationes entwarf. Es kam ohne Kirche, ohne Sündenfall und ohne Erlöser aus. Doch wer sollte weiterhin Kirchensteuern zahlen, wenn der sündige Mensch nicht mehr der Erlösung bedurfte? Und warum sollte man Gottes Gebote halten, wenn weder Strafe und noch Belohnung warteten? Wie begründeten die Geistlichen ihre Privilegien, auf denen die Existenz des geistlichen Standes beruhte? Und so wurden die Schriften von Descartes 1663 auf den Index gesetzt, was ihre Verbreitung eher gefördert haben dürfte.
Natürlich dachten seine Leser diese Thesen weiter. Die Meditationes waren verführerisch. Sie offerierten eine Fülle von neuen Freiheiten, darunter auch die Freiheit von Verpflichtungen gegenüber dem Nächsten. Ohne Descartes ist der Marquis de Sade nicht vorstellbar.
Die Obrigkeit erkannte die zersetzende Wirkung, die Decartes’ Thesen auf den Ständestaat ausübten. Ludwig XIV. verbot 1671 alle öffentlichen Vorlesungen, in denen die Thesen von Descartes vertreten wurden. Die egalitäre Nationalversammlung würdigte sein Verdienst um die Revolution. Sie wollte den 1649 in Schweden Verstorbenen ins Pantheon überführen.
Das geschah nicht. Descartes liegt seit 1819 in der Abtei Saint-Germain-des-Près in Paris begraben, während sein Schädel im Pariser Musée de L’Homme aufbewahrt wird. Sie finden das merkwürdig? Descartes hätte sich nicht daran gestört, aber darüber mehr in unserem nächsten Beitrag.