Nein, Wilhelm Tell ist nicht in diesem Buch enthalten, das der Schweizer Kupferstecher und Verleger David Herrliberger 1748 drucken ließ. Es war auch nicht beabsichtigt, ein Geschichtsbuch zu verfassen. Herrliberger war kein Historiker. Er war Unternehmer. Und er hatte immer den richtigen Riecher, wenn es darum ging, Bestseller zu produzieren. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Schweizer, das war genial. Denn damit lieferte er der Gesellschaft wunderbaren Gesprächsstoff. Ob intellektueller Salon, ob Sitzung der Akademie, ob beim nachmittäglichen Besuch, überall konnte man wunderbar darüber streiten, wer zu Recht, wer zu Unrecht Aufnahme in dieses Buch gefunden hatte. Aber dafür musste man natürlich wissen, wer gelistet war, und was er dafür leisten musste. Und das versprach dem Verleger viele verkaufte Bücher...
Tatsächlich hatte der erste Teil des „Schweitzerischen Ehrentempels“ so großen Erfolg, dass Herrliberger ihm 1758 einen zweiten Teil folgen ließ. 1774 erfolgte sogar noch ein dritter Band.
Wer aber gehörte damals zu den bekanntesten Schweizern? Aus welchen Berufssparten stammten sie? Nun, eines ist ganz klar: Der Röstigraben war schon 1748 vorhanden. Nur ein einziger „großer Schweizer“ kam für Herrliberg aus der französischsprachigen Schweiz, und zwar aus Genf. Wenn man wollte, könnte man das an der Sprachgrenze gelegene Fribourg noch mit einem Vertreter dazuzählen. Aber aus der italienischen Schweiz war kein einziger dabei. Die meisten „großen“ Schweizer stellte dagegen - wen wundert’s - die Stadt Zürich, aus der auch Herrliberg stammte. Drei kamen aus Bern, der Rest verteilte sich auf Basel (2), Graubünden (2), Luzern (1), Schaffhausen (2), St. Gallen (2) und Uri (1).
Fahndet man nach den Schweizern, die selbst wir heute noch kennen, erleben wir eine Überraschung: Weder Zwingli noch Calvin, weder Paracelsus noch Leonhard Euler, ja, nicht einmal der Basler Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein, der im Westfälischen Frieden immerhin die Unabhängigkeit der Schweiz aushandelte, ist im Ehrentempel der berühmten Schweizer zu finden.
Stattdessen sind es vor allem bedeutende Militärs (7), Politiker (5), Wissenschaftler (4) und Theologen (3), die aufgelistet sind. Ihre Namen? Nun, wer sich nicht äußerst detailliert in der Schweizer Geschichte auskennt, hat wahrscheinlich noch nie von ihnen gehört, außer wenn er in ihren Heimatstädten die nach ihnen benannte Straße gesucht hat. Damals kannte sie jeder! Nur ein einziger Name hat es in die heutige Allgemeinbildung geschafft, der Maler Hans Holbein (1498-1554), übrigens der einzige Künstler, der Aufnahme in den Schweitzer Ehrentempel fand!
Darin spiegelt sich, wie stark sich unser Bildungskanon seit der Aufklärung verändert hat. Während man damals die bedeutendsten Wissenschaftler, Politiker und Soldatenführer aufzählen konnte, tendieren wir dazu, der darstellenden Kunst - und seit einigen Jahren - vor allem dem Sport eine wesentlich größere Bedeutung zuzuschreiben. Oder andersherum gefragt: Wie viele Generäle von Weltrang kennen Sie? Wie viele international bekannte Professoren? Und wie viele Schauspieler? Wie viele Sänger? Wie viele Sportler?
Dieses kleine Büchlein ist nicht nur ein historisches Zeugnis. Es ist vor allem ein Zeichen dafür, wie vergänglich der Ruhm ist und das Maß, an dem man ihn mißt. Aber, wenn wir Albrecht von Haller glauben wollen, der für den Ehrentempel das einleitende Gedicht lieferte, war das den vorgestellten „Großen“ der Schweizer Geschichte sowieso nicht wichtig, denn
Der Ruhm, der Weise krönt, der um die Helden strahlt, / Und den bemühten Dienst erhabner Bürger zahlt, / Ist für sie selbst ein Rauch, den sie nicht ungern missen, / Der echten Tugend Lohn ist Gott, und ihr Gewissen. / Dann ist der Ruhm kein Dunst, wenn er den jungen Geist, / Der regen Flamme gleich, mit sich zur Höhe reißt, / Nach edler Ahnen Bild die Nachwelt reitzt zu streben, / Und größre Cäsarn zwingt, im Friedrich aufzuleben.
Wenn Sie im Detail wissen wollen, wer alles Aufnahme fand im Schweitzer Ehrentempel, besuchen Sie bitte die Seite der Zürcher ZB. Wir haben für unsere kleine Mini-Statistik übrigens nur den ersten Band herangezogen.
David Herrliberger finden Sie (natürlich) im Historischen Lexikon der Schweiz.
Und wenn Sie testen wollen, ob Sie heute die bekanntesten Schweizer kennen, dann machen Sie doch dieses Quiz des deutschlernerblogs.