Nie schien die Gesellschaft beweglicher als während der frühen Industrialisierung. Hatten ganze Nationen zuvor geglaubt, der Stand eines Menschen sei gottgewollt und unveränderlich, war es plötzlich begabten Technikern möglich, dank ihrer Erfindungen in die höchste Gesellschaftsschicht vorzudringen. Auch für begabte Administratoren fanden sich einträgliche Posten. Es entstand eine neue, selbstbewusste Mittelschicht mit einer ganz eigenen Moral. Der Erfolgsautor Charles Dickens war wesentlich daran beteiligt, die neuen bürgerlichen Werte und Verhaltensnormen festzuschreiben.
Er tat dies in seinen Erzählungen, indem er eine aufregende Handlung mit klaren Vorgaben verband, wie ein bürgerliches Leben zu gestalten sei. Wir haben im ersten Teil von Drei Annährungen an David Copperfield erzählt, wie wichtig dabei die richtige Partnerwahl war.
Mindestens genauso existentiell war der kluge Umgang mit Geld. Schließlich beruhte das Überleben einer Familie darauf, dass der Haushaltsvorstand sein Kapital nicht verlor. Um das zu illustrieren, konstruiert Charles Dickens in seinem Roman verschiedene Geld-Typen, anhand derer er ihr Finanzgebaren und seine Folgen schilderte. Wir stellen Ihnen die vier wichtigsten vor.
Artikeltext:
Der Skrupellose: Uriah Heep
Beginnen wir mit dem Charakter, der bei allen Lesern die größte Abscheu hervorruft, mit Uriah Heep, dem Assistenten des alkoholkranken Anwalts Wickfield, dessen Tochter David Copperfield am Ende des Buches heiraten wird.
Uriah Heep stammt aus kleinsten Verhältnissen. Und das hat sich in seinem Bewusstsein tief eingegraben. Immer wieder hat ihm seine Mutter eingehämmert, dass sie die Underdogs sind, denen niemand hilft, wenn sie sich nicht selbst helfen. Er, der kleine Uriah Heep, muss den Kampf um sein Recht aufnehmen. Allein gegen das gesamte Establishment! Deshalb sind ihm – so glaubt er – alle Mittel erlaubt. Schmeicheln, Lügen, Betrügen, wen schert das, solange das Ergebnis stimmt. Uriah Heep hat mit der Muttermilch den Hass auf die anderen eingesogen, die ihm ein würdiges Leben vorenthalten.
Und so macht er sich an die Arbeit: Er lernt, was ihm nutzt, buckelt und schmeichelt, lügt und betrügt, und merkt dabei nicht, wenn er auf echtes Interesse, herzliche Freundlichkeit stößt. Er nutzt seine Position als Kopist beim Anwalt Wickfield, um sich unentbehrlich zu machen und zum Compagnon aufzusteigen. Damit hätte er eine geachtete und finanziell abgesicherte Position erreicht. Aber das genügt seinem Hass nicht. Uriah Heep will mehr. Er veruntreut die Geldes der Klienten von Wickfield, schiebt juristisch gesehen dem überforderten Partner die Verantwortung für seine Diebstähle zu. Damit treibt er Wickfield in den Ruin. Sein Ziel: Die Heirat mit Wickfields Tochter Agnes zu erpressen. Nicht weil er sie liebt, sondern weil er David Copperfield verletzen möchte. Wie sehr hat er ihn um seine privilegierte Position im Hause Wickfield beneidet!
Beinahe wäre sein Unterfangen geglückt. Doch im letzten Moment kann David Copperfield all seine über die Jahrzehnte gewonnenen Freunde mobilisieren, um gemeinsam die Machenschaften von Uriah Heep zu unterbinden. So wird Uriah Heep aus seinem warmen Nest wieder in die Bedeutungslosigkeit gestürzt.
Dieser Handlungsstrang vermittelt seinem Leser gleich mehrere Botschaften:
- Menschen, die sich als Underdogs fühlen, sind eine unterschätzte Gefahr für die Gesellschaft, denn sie bauen das Potential auf, zurückzuschlagen.
- Hass und Unrecht ist keine Basis für ein nachhaltiges Wirtschaften.
- Freunde sind die beste Verteidigung gegen jedes Unrecht. Gemeinsam ist es einfacher, sich gegen Übeltäter zu wehren.
Der fröhliche Verschwender: Wilkins Micawber
Eigentlich wüsste Wilkins Micawber ganz genau, wie man mit Geld umgeht, schließlich hat er selbst dem jungen David Copperfield den entscheidenden Ratschlag gegeben: "Jährliches Einkommen zwanzig Pfund. Jährliche Ausgabe neunzehn Pfund neunzehn Shilling sechs Pence. Fazit: Wohlstand. Jährliches Einkommen zwanzig Pfund. Jährliche Ausgabe zwanzig Pfund und sechs Pence. Fazit: Dürftigkeit. Die Blüte ist vernichtet, das Laub ist verwelkt, der Gott des Tages tritt ab von der traurigen Bühne, und – mit einem Wort: Sie sind zum Teufel."
Wenn Wilkins Micawer nur in der Lage wäre, sich selbst an diese Regel zu halten! Er schafft es einfach nicht, weniger auszugeben als er einnimmt. Stattdessen verschwendet er das Geld, solange er es hat. Trinkt Champagner und schlemmt mit all seinen Freunden die feinsten Leckereien. Schulden zurückzahlen? Aber nein, lieber neue Schulden machen! Es gibt immer wieder dumme, vertrauensselige Menschen, die ihm Geld leihen, damit er nicht ins Schuldgefängnis muss. Die ruiniert Wilkins Micawber dann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Und doch sieht Charles Dickens auch das Positive in diesem Bruder Leichtfuß. Er macht ihn zum Gegenspieler von Uriah Heep: Der nutzt eine akute finanzielle Notlage Micawbers, um ihn in seine dunklen Geschäfte zu verwickeln. Als Micawber begreift, dass ausgerechnet sein alter Freund David Copperfield zu den Opfern zählt, erträgt er das nicht. Er vertraut sich Copperfield an und verspricht ihm – gegen Deckung all seiner Schulden und einen Fahrschein in die neue Welt –die notwendigen Beweise gegen Uriah Heep zu liefern. Der Coup gelingt: Uriah Heep wird überführt. Wilkins Micawber bekommt seine zweite Chance. Und so wird der ewige Verschwender Micawber doch noch ein nützliches (und sparsames) Mitglied der Gesellschaft.
Wieder können wir eine Reihe von Hinweisen zu klugem finanziellem Verhalten aus der Gestalt Wilkins Micawber ziehen.
- Gib nicht mehr aus, als Du einnimmst.
- Wer in Schulden steckt, nimmt Hilfe, wo er sie bekommt, selbst wenn ein Verbrecher sie gibt und der Schuldner selbst zum Verbrecher wird.
- Jeder verdient eine zweite Chance.
Der Vertrauensselige: Tommy Traddles
Der altruistische Tommy Traddles ist nicht nur der ideale Freund, sondern auch das ideale Opfer für Menschen wie Wilkins Micawber. Natürlich hilft er dem Mann, als der ihn händeringend um ein Darlehen bittet. Er gibt ihm sein gesamtes Bargeld. Schließlich müsste sonst die arme Familie ins Schuldgefängnis! Und Micawber tut, was er immer tut, wenn Bargeld im Haus ist. Er lässt es sich gut gehen und kommt, als der nächste Gläubiger ihn bedrängt, sofort zu Tommy Traddles zurück. Der hat natürlich kein Bargeld mehr. Aber er unterschreibt eine Bürgschaft. Wie könnte der gute Tommy Traddles den netten Mann, der da so zerknirscht vor ihm steht, dem Schuldgefängnis überantworten? Außerdem verspricht Wilkins Micawber hoch und heilig, mit Brief und Siegel, alles rechtzeitig zurückzuzahlen. Dass er es dann doch nicht tut? Nun, für den Leser ist das keine Überraschung. Tommy Traddles kostet es alles, was er besitzt. Sein Hausrat wird gepfändet, und seine so heiß ersehnte Hochzeit verschiebt sich dadurch um Jahre.
Charles Dickens verurteilt diese Form der Mildtätigkeit. Er zeigt, dass es genau diese Form der Dummheit ist, die den Micawbers der Welt ihr Finanzgebaren ermöglicht. Wie anders dagegen die Unterstützung, die David Copperfield Wilkins Micawber zukommen lässt: Er gibt ihm die Chance zum Neuanfang, leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Er gibt Micawber durch sein Geschenk die Selbstachtung zurück.
Natürlich verbindet Charles Dickens auch die Gestalt von Tommy Traddles mit einigen einprägsamen Lehren:
- Sei in Gelddingen nicht zu vertrauensselig.
- Betreibe keine Pflästerchenpolitik, wenn drastische Maßnahmen erforderlich sind.
- Und mache vor allem den gleichen Fehler nicht zweimal!
Das bürgerliche Geldideal: David Copperfield
Natürlich gibt es auch ein Ideal, wie der gute Bürger mit Geld umgeht. Und dieses Ideal verkörpert David Copperfield. Er ist ein kluger Wirtschafter, der spart, um Kapital anzusammeln, das ihm den Aufstieg ermöglicht. Er ist aber auch ein großzügiger Mensch, der trotz seiner beschränkten Mittel der geliebten Tante uneigennützig unter die Arme greift, als diese ihr gesamtes Vermögen verliert. Wilkins Micawber dagegen gibt er nicht einen Penny, um dessen Gläubiger hinzuhalten. Dagegen bewirtet er die Familie und ermöglicht den Neuanfang.
Für David Copperfield ist Geld nicht ein Ziel, sondern ein Mittel zum Zweck, das er vernünftig einsetzt, um sich das Leben aufzubauen, von dem er träumt.
Damit verkörpert er das neue bürgerliche Geldideal. Dass er auch für ein neues Bildungsideal steht, das erfahren Sie in unserem 3. und letzten Teil der David Copperfield-Trilogie.