Gute Geschichten können unser Verhalten beeinflussen. Wer sich mit einem Helden identifiziert, eifert ihm nach. Fehlverhalten von literarischen Schurken stößt uns dagegen ab und lässt uns auch im wirklichen Leben Abstand von ähnlichen Handlungen nehmen. Im 19. Jahrhundert galt deshalb ein Buch dann als gute Literatur, wenn es Anregungen bot, ein gutes Leben zu führen. Charles Dickens war dafür hervorragend geeignet. Seine Erzählungen lesen sich wie eine Anleitung, das bürgerliche Glück zu finden. David Copperfield ist dafür ein gutes Beispiel.
Artikeltext:
Was geschieht in David Copperfield?
1179 Seiten umfasst die für diesen Text gelesene deutsche Übersetzung des 1849/50 erschienenen Romans. Sie wurde von der Manesse Bibliothek der Weltliteratur 1961 in der Corona-Reihe publiziert. Diese Reihe mit ihrem größeren Format wurde 1959 dezidiert dafür geschaffen, Romane, die zu umfangreich für die kleinen Manesse-Bändchen schienen, zu veröffentlichen.
1179 Seiten also, geballt voll von Handlung und Protagonisten! Es leuchtet sicher ein, dass man das Geschehen eines solchen Werks entweder mit fünf Sätzen oder auf 20 Seiten wiedergeben muss. Wir haben uns für die Fünf-Sätze-Version entschieden: David Copperfield ist ein kleiner Junge, dessen Mutter den Fehler begeht, nach dem Tod ihres Mannes den Falschen zu heiraten. Das kostet die Mutter den Besitz, David Copperfield sein Erbe. Doch der kleine Junge gibt nicht auf. Er erreicht es, dank der großzügigen Hilfe einer Verwandten die Bildung zu erhalten, die für den Aufstieg notwendig ist. Mit Fleiß und Engagement legt er den Grundstein für eine sichere Existenz, deren Glück die Heirat mit der idealen Frau besiegelt.
Noch wesentlich umfangreicher als der Roman ist die Sekundärliteratur zu David Copperfield. Man hat minutiös rekonstruiert, in wie weit Charles Dickens eigene Erfahrungen hat einfließen lassen. Wir wissen alles über Erzählperspektive, Publikationsgeschichte, die Bedeutung der Illustrationen und vieles mehr. All dies ist interessant und übersteigt doch den Rahmen dieses Texts bei weitem. Wir werden uns in unserer Annäherung auf ein einziges Thema beschränken: Welche bürgerlichen Ideale vertritt Charles Dickens in seinem David Copperfield? Wir zeigen das an drei Beispielen: An der Ehe, der Bildung und dem Umgang mit Geld. Während dieser Teil der Ehe und der richtigen Auswahl des Ehepartners gewidmet ist, beschäftigen sich zwei kommende Kapitel mit Bildung und Geld.
Zum Verständnis: Grundlagen des englischen Eherechts
Beginnen wir mit dem Ideal der bürgerlichen Ehe, das Dickens in seinem Buch propagiert. Und dafür müssen wir uns zunächst mit den juristischen Grundlagen beschäftigen, denn man versteht die Handlung von David Copperfield nicht, wenn man nicht weiß, dass in England vor dem Jahr 1870 die Verfügungsgewalt über das Vermögen einer verheirateten Frau vollständig bei ihrem Ehemann lag. Ganz gleich, ob Immobilien, Barvermögen, Renten oder Aktien: eine Frau, die heiratete, übertrug ihrem Mann das alleinige Recht, ihr Eigentum zu nutzen. Einzig der Ehemann entschied, ob und wie er für Ehefrau und Kinder sorgte. Eine Frau, die heiratete, legte also ihr Schicksal vollständig und unwiderruflich in die Hand ihres Ehemannes. Ein hohes Risiko, das bei einer unklugen Partnerwahl eine schlimme Wende nehmen konnte!
In David Copperfield dekliniert Charles Dickens die möglichen Fehler bei der Partnerwahl geradezu durch. Und natürlich zeigt er auch, wie kluges Vorgehen aussehen kann.
Der Fehler der Mutter
David Copperfield beginnt mit einem familiären Idyll: Da lebt der kleine David im ländlichen Suffolk, liebevoll umsorgt von seiner Mutter Clara und der Haushälterin Peggotty. Die Welt steht ihm offen, denn sein vorzeitig verstorbener Vater hat finanziell vorgesorgt: Die Mutter muss sich keine Gedanken um ihren Lebensunterhalt machen. Und das ist gut so, denn die liebenswerte, aber ziemlich unreife Frau wäre dazu auch nicht in der Lage.
Leider schleicht sich in Form eines Mitgiftjägers die Schlange in dieses Paradies. Edward Murdstone bezaubert die Mutter, macht ihr den Hof, schmeichelt ihr und trotz aller wohl gemeinten Warnungen wird aus Clara Copperfield Mrs. Edward Murdstone. Damit verschwinden Lachen und Überfluss. Geld wird nur noch für die Bedürfnisse des Haushaltsvorstands ausgegeben. Der kleine David muss sich umgewöhnen: statt lustiger Spiele und Leckereien gibt es nun böse Worte und Prügel. Als er sich wehrt, schiebt ihn Murdstone in ein Internat ab. Natürlich in ein möglichst billiges.
Lieblosigkeit, Freudlosigkeit, eine schwere Geburt und die Verzweiflung, ihren Sohn ins Unglück gestürzt zu haben, all das lässt Mutter Clara frühzeitig dahinsiechen und sterben. Damit scheint sie das Schicksal ihres Sohnes zu besiegeln. Denn Murdstone spart sich auch noch das Schulgeld und schickt den Zehnjährigen in eine Londoner Fabrik. Dort muss sich der Junge selbst den kargen Lebensunterhalt verdienen.
Doch David lehnt sich auf! Er will mehr vom Leben. Er will Bildung, um nicht in die Arbeiterklasse abzusinken. Und so flieht er zu einer Tante. Doch obwohl die ihn aufnehmen möchte, muss sie dafür die Zustimmung des Pflegevaters einholen. Dickens schreibt eine großartige Szene, in der es die beherzte Frau schafft, Mr. Murdstone dazu zu bringen, jedenfalls solange er keine Kosten mehr tragen muss.
Der Fehler der Freundin
Ist das Schicksal der Copperfields schon schlimm, ist es immer noch besser als das von Emily, der wunderschönen und talentierten Freundin Davids aus Kindertagen. Die junge Frau träumt von der großen, weiten Welt. Der liebende, gutherzige, tüchtige Bräutigam, den ihr Vater für sie ausgewählt hat, ist ihr zu provinziell, zu alltäglich, zu langweilig. Ihre Träume machen es dem skrupellosen James Steerforth leicht, sie zu verführen. Emily glaubt an sein Eheversprechen und flieht heimlich mit ihm.
Doch Steerforth denkt gar nicht daran, sie zu heiraten. Nach ein paar vergnügten Monaten verlässt er die gesellschaftlich weit unter ihm Stehende. Will Emily nicht verhungern, bleibt ihr nur die Prostitution. Doch Rettung kommt in Form ihres liebenden Vaters. Er findet die Tochter, vergibt ihr und geht mit ihr nach Amerika, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Das Opfer für die Familie
Noch schlimmer hätte es für eine andere Jugendfreundin von David Copperfield kommen können: Agnes Wickfield ist die Tochter eines ehrenwerten Rechtsanwalts, den die Trauer um seine verstorbene Frau zum Alkoholiker gemacht hat. Immer tiefer gleitet er ab in die Sucht und sucht Hilfe beim Falschen, nämlich bei seinem hinterhältigen Gehilfen Uriah Heep. Ihn macht er zu seinem Teilhaber. Heep nutzt Wickfields Momente der Schwäche, um ihn ungedeckte Schuldscheine unterschreiben zu lassen. Das Schuldgefängnis scheint unumgänglich, falls Wickfield sich weigert, Heeps Forderung zu erfüllen: Begleichung der Schulden im Austausch gegen die Hand der schönen Agnes (und - was wichtiger ist - ihres Erbes). Was das für die junge Frau bedeutet hätte, konnte sich Mitte des 19. Jahrhunderts jede Leserin lebhaft ausmalen! Es dürfte damals nicht selten vorgekommen sein, dass eine Tochter mit ihrem Lebensglück für die Dummheit des Vaters bezahlte.
Doch Agnes hat genau wie Emily Glück im Unglück: David Copperfield gelingt es zusammen mit seinen Freunden, die Machenschaften von Uriah Heep noch vor der Eheschließung zu vereiteln.
Die Fehler der Männer
Aber nicht nur Frauen machen Fehler bei der Partnerwahl. Auch Männer sollten die Alternativen sorgfältig abwägen. David Copperfield tut das nicht. Er liebt die kapriziöse Dora Spenlow über alles, und sie liebt ihn, und trotzdem wird die gemeinsame Ehe ein Desaster. Denn Dora ist völlig ahnungslos, was den Haushalt betrifft. David mag gedacht haben, das ließe sich lernen, doch dem ist nicht so. Dora scheitert an allem. Daran, das Personal zu überwachen, daran mit dem knappen Haushaltsgeld auszukommen, daran aus den zu teuer gekauften Lebensmitteln ein essbares Mahl zur rechten Zeit zu bereiten. Dora ist wunderbar, aber unfähig; sie ist nichts als eine hübsche Dekoration, die David keine Aufgabe abnimmt, sondern nur zusätzliche Aufgaben aufbürdet. Was funktionierte, solange Dora keine Verantwortung trug, wird im Alltag zum Alptraum. Nur der frühe Tod Doras verhindert, dass die Ehepartner sich irgendwann hassen lernen.
Der Faktor Familie
Ob auch Dr. Strong mit seiner Partnerwahl einen Fehler gemacht hat? Der bereits etwas ältliche Wissenschaftler hat mit Annie eine sehr junge, sehr arme, aber überaus tüchtige Frau geheiratet. Während der Ehemann unterrichtet und in seiner Freizeit an seinem endlosen Lexikon schreibt, betreut Annie für ihn vorbildlich den großen Haushalt. Es könnte das perfekte Eheglück sein, wenn da nicht Annies Mutter und ihr Cousin wären. Die beiden wissen genau, wie sie Annie vorschieben können, um immer wieder finanziellen Nutzen aus Dr. Strong zu ziehen.
Zur Krise kommt es, als Annie beschuldigt wird, Dr. Strong mit ihrem Cousin zu betrügen. Das hätte für Annie schlimm ausgehen können, wäre der Wissenschaftler nicht ein so gutherziger Mensch! Doch statt Annie fortzuschicken, macht er sich selbst Vorwürfe: Er habe eine junge Frau zu früh an sich gebunden und so ihr Lebensglück zerstört. Er habe dazu den Egoismus von Mutter und Cousin benutzt. Aus purem Eigeninteresse hätten sie Annie zur Heirat mit ihm überredet, obwohl die ihr Glück doch mit einem jüngeren Mann hätte finden können. Natürlich kommt dann doch heraus, dass Annie Dr. Strong von Herzen liebt. Und als Draufgabe werden die Machenschaften von Mutter und Cousin unterbunden. Fortan sprechen die Ehepartner miteinander, statt ständig zu versuchen, die Wünsche und Gedanken des anderen zu erraten. Und damit ist diese Ehe gerettet.
Eine existentielle Wirtschaftsgemeinschaft
Charles Dickens liefert in David Copperfield auch eine große Auswahl an Beispielen für eine geglückte Ehe. Voraussetzung ist dabei oft, dass die Vernunft bei der Partnerwahl mitentschieden hat. Liebe? Nun ja, eine schöne Zugabe, aber für den Erfolg einer Ehe nicht erforderlich. Bei Charles Dickens funktionieren auch Ehen, die ohne Romantik auskommen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Ehe zwischen Kinderfrau Peggotty und Fuhrmann Barkis. "Barkis hat Lust", das lässt der wortkarge Kutscher der tüchtigen Peggotty ausrichten. Und ja, Peggotty hat auch Lust. So heiraten die beiden – ohne jedes Brimbamborium. Nichtsdestotrotz kommen sie wunderbar miteinander klar, bis der alte Barkis stirbt und seine tief trauernde Witwe wohlversorgt zurücklässt.
Barkis und Peggotty zeigen uns, was die bürgerliche Ehe wirklich ist, nämlich eine Wirtschaftsgemeinschaft mit Arbeitsteilung: Der Mann geht hinaus in die Welt, um das Geld zu verdienen. Die Frau bleibt im Haus, um den Alltag zu organisieren. Im 19. Jahrhundert noch eine Vollzeitbeschäftigung! Sein Einkommen ist für die Bequemlichkeit beider genauso wichtig wie ihr Können hinsichtlich des Kochens, Putzens und der Beaufsichtigung von Dienstpersonal und Lieferanten.
Nicht die Schönste, sondern die Tüchtigste
Es gilt also, sorgfältig zu wählen, um den idealen Partner zu finden. Wie man das tut, das lernt David Copperfield von seinem Schulfreund Tommy Traddles. Der wartet viele Jahre, bis sein Einkommen endlich reicht, um seiner Braut eine gesicherte Existenz zu bieten. Zum Glück ist die geduldig. Die Eltern drängen auch nicht auf die Hochzeit. Ihre vierte Tochter mag vielleicht nicht so schön wie die älteste sein, ist dafür aber überaus tüchtig und organisiert ihnen den gesamten Haushalt. So ist das Jammern groß, als Traddles sie endlich heiratet. Doch seine frisch gebackene Frau ist energisch genug, ihrer übergriffigen Familie die Grenzen aufzuzeigen, während Traddles die Toleranz aufbringt, die dabei eingegangenen Kompromisse mitzutragen. Die beiden werden sehr glücklich miteinander, genauso wie David Copperfield, der endlich, ganz am Ende der Geschichte merkt, dass er und Agnes Wickfield zusammengehören. Auch sie ist eine erfahrene Hausfrau, verfügt über einen vorbildlichen Charakter und liebt ihren David schon viel lange.
Und so findet David Copperfield am Ende seiner Abenteuer doch noch das ganz große Glück in einer bürgerlichen Ehe.
Zum 2. Teil der Annäherungen an David Copperfield kommen sie hier. Er ist dem bürgerlichen Geldideal gewidmet.