Wie kann die Menschheit ihr volles Potenzial entfalten? Welche Bedingungen braucht es, damit alle Menschen ihr Leben ihren Neigungen und Talenten entsprechend gestalten können? Diese Fragen treiben den irischen Schriftsteller Oscar Wilde um, als er 1891 den Essay „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ veröffentlicht. Seine Antwort? Es braucht vor allem die größtmögliche Freiheit für das Individuum. Alles, was den Menschen abhängig macht, fremdbestimmt oder einschränkt, soll abgeschafft werden, um die Entfaltung seiner wahren, inneren Natur zu gewährleisten. Zu den Dingen, die das Individuum in seiner Freiheit einschränken, zählt Wilde unter anderem Erwerbsarbeit und den Besitz von Privateigentum. Leider bleibt der Essay in dieser Hinsicht recht abstrakt und weitschweifig, ohne wirkliche sozioökonomische Lösungen anzubieten. Stattdessen äußert sich der Schriftsteller ausführlich zur Stellung des Künstlers in der Gesellschaft, sodass der Eindruck entsteht, dass es ihm im Grunde genommen um etwas anderes geht: Nicht um die maximale Freiheit des Einzelnen gegenüber der Ökonomie, sondern um die maximale Freiheit des Künstlers gegenüber dem Publikum.
Aber beginnen wir mit dem Problem der Erwerbsarbeit, wie Wilde es sieht. Der Grundgedanke ist recht simpel: Wenn Menschen Lohnarbeit nachgehen müssen, um damit ihr Überleben zu sichern, sind sie unfrei. Vor allem, wenn die Arbeit monoton ist und nicht den Talenten, Interessen oder Neigungen der Menschen entspricht. Verwandte Gedanken gibt es auch bei vielen anderen Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Karl Marx zum Beispiel schreibt, die mit der Frühindustrialisierung entstandenen Arbeitsverhältnisse entfremdeten den Menschen zunehmend von sich selbst. Brillant in Szene gesetzt ist diese Figur des Fabrikarbeiters, der völlig monotone, ihn geistig und körperlich zermürbende Arbeiten ausführt, in Fritz Langs dystopischem Film Metropolis (1927). In England setzte sich William Morris, seines Zeichen Künstler, Buchdrucker und Sozialist, mit dem von ihm begründeten arts and crafts movement für den Erhalt der Handwerkskunst gegen die maschinelle Industrialisierung ein. Auch hier steht die Idee im Mittelpunkt, dass sich der Mensch mit seiner Arbeit sinnvoll und gestalterisch selbst ausdrücken kann.
Während also die Abhängigkeit des Lohnarbeitsverhältnisses für Wilde der Entfaltung des Individuums im Weg steht, kann der Besitz von Privateigentum genau diese Entfaltung ermöglichen. So erklärt sich Wilde den Erfolg von großen Schriftstellern wie Lord Byron, Percy B. Shelley, Robert Browning, Victor Hugo und Charles Baudelaire. Diese konnten ihre Persönlichkeit voll entfalten, weil sie als vermögende Männer nicht einen Tag arbeiten gehen mussten und ergo die Zeit und Muße hatten, kreativ tätig zu werden. Auch das leuchtet ganz grundlegend ein: Wer nach einem langen anstrengenden Arbeitstag abends erschöpft nach Hause kommt, wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht an den Schreibtisch setzen, um Gedichte zu schreiben. Im Gegenteil. Niemand, so Wilde, denke mehr über Geld nach als die Armen. Derjenige, der kein Geld hat, ist dazu gezwungen, an nichts anderes zu denken. Wie bezahle ich meine nächste Miete? Wovon kaufe ich diesen Monat Essen? Wer also gezwungen ist, ständig über die Sicherung seines Lebensunterhalts nachzudenken, hat wenig Freiraum, über andere Dinge nachzudenken – kreativ oder künstlerisch tätig zu werden, Dinge zu erfinden, neue Ideen zu entwickeln. Auch das leuchtet zunächst einmal ein.
Die Schriftstellerin Virginia Woolf zum Beispiel nahm den Gedanken, dass ökonomische Unabhängigkeit künstlerische Freiheit ermöglicht, auf und bezog ihn auf die Situation der Frau. In ihrem berühmten Essay „Ein Zimmer für sich allein“ (1929) überlegte sie, warum Frauen historisch als Schriftstellerinnen so unterrepräsentiert sind. Ihre Erklärung: Nicht etwa, weil sie weniger begabt oder weniger klug waren als Männer, sondern weil sie ökonomisch nicht die Mittel dazu besaßen, Kunst zu schaffen. Sie verfügten nicht über Besitz, sondern waren finanziell und anderweitig von ihren Ehemännern abhängig. Hätten sie die Freiheit besessen, „ein Zimmer für sich allein“ zu haben – ohne mütterliche Pflichten, ohne Kindergeschrei, ohne Zuschauer – und dazu ein monatliches Auskommen zu ihrer eigenen Verfügung, hätte es vermutlich viel mehr Frauen gegeben, die schon früher große Literatur geschrieben hätten.
Und damit sind wir bei einem großen Problem, das Wilde im Privateigentum sieht, angekommen. Nur sehr wenige Menschen in der Gesellschaft besitzen eben diese ökonomische Freiheit. In jeder Generation gibt es eine Hand voll Individuen, die große Kunst, große Erfindungen, große Ideen hervorbringen. Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn mehr, nein, wenn alle Leute diese Möglichkeiten hätten? Eine schöne Idee, aber ihre Ausführung bleibt Wilde leider lückenhaft. Während die grundsätzliche Überlegung, dass prekäre Arbeitsverhältnisse oder finanzielle Not viele Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung einschränken, durchaus nachvollziehbar ist, erklärt sich daraus nicht automatisch, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Im Essay spricht Wilde zwar wiederholt vom Sozialismus als alternativer ökonomischer Ordnung, die dem Individualismus dienen soll, aber wie genau diese sozialistische Gesellschaftsordnung aussehen könnte, bleibt weitgehend unklar.
In einer Sache ist Wilde jedoch ganz explizit. Der Sozialismus soll darf den Menschen genauso wenig einschränken wie der Kapitalismus. Er darf nicht etwa als autoritärer Staatssozialismus alte mit neuen Formen der Regulierung ersetzen. Wilde richtet sich ganz entschieden gegen jedwede Form autoritärer Herrschaft und damit auch gegen bestimmte Formen des autoritären Sozialismus. Maximale Freiheit für das Individuum ist das Credo des Libertären.
Diese maximale Freiheit gilt auch und insbesondere für den Künstler. Nur solche Kunst gilt dem irischen Schriftsteller als gut, die der Natur des Kunstschaffenden uneingeschränkt Ausdruck verleiht, sich nicht vom Geschmack der Massen, der Erwartungshaltung der Kritiker oder den Moralvorstellungen der Gesellschaft beeinflussen lässt. Der Künstler soll nur auf sich selbst hören, nur sich selbst verwirklichen, nichts darauf geben, was das Publikum will, die öffentliche Meinung ignorieren. Nur dann schafft er wahre Kunst. Wilde ist nicht der einzige Vertreter des l’art pour l’art, der Auffassung Kunst solle nur um ihrer selbst willen geschaffen werden, aber im Kontext dieses Essays bekommt seine Haltung eine ganz besondere Färbung. Denn auch hier geht es wieder um Eigen- versus Fremdbestimmung. Wilde will absolute Selbstbestimmung in allen Aspekten des Lebens: Der Mensch soll arbeiten, was er will, Kunst machen wie er will, sich anziehen wie er will – und wenn man Wildes Lebensgeschichte betrachtet müsste man hinzufügen „lieben wie und wen er will“.
Denn Wilde wurde nicht nur als Autor großartiger Literatur bekannt, sondern auch für sein Verhältnis mit dem deutlichen jüngeren Alfred „Bosie“ Douglas, für das er sogar 1895 zwei Jahre ins Gefängnis ging. Für eine Gesellschaft, die strikte Moralvorstellungen besaß und Homosexualität kriminalisierte, war jemand wie Oscar Wilde ein Problem. Mit seinem exzentrischen Kleidungsstil, seiner Vorliebe für exzessive Partys und seinen homophilen Neigungen war Wilde genau jene Künstlerfigur, die er in seinem Essay beschreibt. Der Künstler, der sich gegen die Masse, gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen jeglichen Konformismus stellt, ist vor allem er selbst. In diesem Sinne ist „Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus“ weniger als ein politisches und vielmehr als ein ästhetisches Projekt zu betrachten.
Schlussendlich versucht der Essay zwei große Ideen zusammenzuführen: Sozialismus und Individualismus. Die erste Idee lässt sich aus dem historischen Kontext des Schriftstücks erklären, die zweite aus dem biographischen Kontext des Autors. Über den Sozialismus als mögliche Alternative zum Kapitalismus nachzudenken ist typisch für eine Epoche, in der die teils verheerenden Konsequenzen der Frühindustrialisierung sichtbar wurden. Bereits 1845 veröffentlichte Friedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England, eine wichtige soziologische Studie zu den oft katastrophalen Lebensbedingungen der Arbeiter in Englands Großstädten. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts blühte die sogenannte Pauperismusliteratur, die Urbanisierung und Verelendung der Arbeiterklasse fiktional darstellte, um auf sozioökonomische Problemlagen aufmerksam zu machen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Charles Dickens’ Oliver Twist. Dass Wilde über den Sozialismus aber letztendlich gar nicht viele Worte verliert, sondern die Seiten stattdessen mit Überlegungen zum Künstler und seinem Publikum füllt, ist ebenso verständlich, betrachtet man seine Autorenbiographie. Der unbedingten Willen zur Individualisierung, zur Befreiung des individuellen Ausdrucks zieht sich durch seine literarischen Werke ebenso wie durch seine persönliche Vita. Zwar gelingt es Wilde in dieser Instanz nicht, Individualismus und Sozialismus wirklich überzeugend zusammenzudenken – für sich genommen sind aber beide Gedankengänge durchaus lohnenswert.