Ein mondänes Sanatorium am Seeufer, nahe der Stadt mit ihren Töchterpensionaten und „kaum nennenswerter Leichtindustrie“, bildet den Rahmen für eine Tragikömodie Friedrich Dürrenmatts, die bis heute auf unzähligen Bühnen auf der ganzen Welt gespielt wird. Es ist eine Geschichte von Irrwitz und Genie, in der der Zuschauer zwischen Erheiterung und Beklommenheit schwankt.
In nur einem Zimmer der Einrichtung konzentriert sich die Handlung von „Die Physiker“. Die drei Insassen scheinen zunächst wie harmlose und leicht lenkbare Geistesgestörte, die sich für Größen der Wissenschaft halten. Da gibt es den Herrn Beutler, fest davon überzeugt, Sir Isaac Newton zu sein, während sich Herr Ernesti für niemand Geringeren als Albert Einstein wähnt. Und der langjährige Patient Johann Wilhelm Möbius wartet zwar nicht mit einem berühmten Namen auf, glaubt aber, es diktiere König Salomo ihm seit 15 Jahren physikalische Gesetze. Betreut werden die drei vom ältlichen Fräulein Dr. Mathilde von Zahnd, die all ihr Geld in die Anstalt investiert hat.
Diese bekommt Schwierigkeiten, als ihre Insassen nacheinander drei Pflegerinnen erdrosseln, nur weil jene sie nach draußen schleusen wollten. Warum die Physiker unbedingt im Sanatorium bleiben wollen, wird dem Zuschauer allmählich klar: Es ist eine Flucht vor den Konsequenzen ihrer Wissenschaft. Die von Möbius entwickelte „Weltformel“ droht in den falschen Händen zu einer furchtbaren Waffe zu werden. In Wahrheit sind die beiden anderen Insassen, Physiker wie Möbius, Geheimdienstagenten, die Möbius auf ihre jeweilige Seite bringen wollen. Und der ist nicht geistesgestört, sondern simuliert, um so das Risiko seiner Entdeckungen möglichst gering zu halten.
Damit ist das Grunddilemma benannt: Wie geht die Wissenschaft mit ihren Forschungsergebnissen um, wie wird sie ihrer ethischen Verantwortung gerecht? Abgeben will diese nicht nur Möbius am allerliebsten. Auch Eisler/Einstein und Beutler/Newton sehen andere in der Pflicht. Entweder die Partei oder die Allgemeinheit. Zu entscheiden haben sie es letztlich nicht. Bevor die Physiker ihre Aufzeichnungen vernichten, um so Schlimmeres zu verhindern, hatte Fräulein Dr. von Zahnd Kopien angefertigt. Hilflos bleiben die drei Gesunden eingesperrt, während sich die Institutsleiterin als eigentlich Geistesgestörte erweist und alles einleitet für ihre Übernahme der Weltherrschaft.
Dem 1921 im schweizerischen Konolfingen geborenen Dramatiker Friedrich Reinhold Dürrenmatt gelang mit seinem Werk „Die Physiker“ ein wahrer Kassenschlager. Es strömten derart viele Zuschauer zur Premiere am 21. Februar 1962 ins Schauspielhaus Zürich, dass man die Uraufführung an drei Abenden stattfinden ließ. Deutsche Bühnen führten das Stück 1962/63 fast 1.600 Mal auf. Und auch in London und New York feierte man Dürrenmatt.
Der Schweizer traf den Nerv der Zeit. Verunsichert durch einschneidende Ereignisse der späten 1950er und frühen 1960er – atomare Aufrüstung, Kalter Krieg, Bau der Berliner Mauer – empfanden sich viele Menschen als zunehmend hilflos. Dieses latente Gefühl der Machtlosigkeit des Individuums treibt Dürrenmatt auf die Spitze, indem er seiner Geschichte wie ein Drama das schlimmste denkbare Ende gibt. In Zeiten fast unkontrollierbarer Bedrohungen wie Cyberkriminalität oder dem Wahn religiöser Fanatiker bleibt da auch heute so manchem Theaterbesucher das Lachen im Halse stecken.