Barthélemy de Chasseneuz (1480-1541) war ein Jurist, und zwar weder ein engstirniger noch ein schlechter, im Gegenteil. Er hatte an französischen und italienischen Universitäten unter den berühmtesten Lehrmeistern seiner Zeit studiert. Der begabte Rechtsgelehrte hatte am Hof des Herzogs von Mailand und sogar des Papstes selbst Erfahrung gesammelt. Und doch kehrte er 1506 in seine Heimat zurück, wo er hohe Ämter übernahm.
Er dürfte anders gewesen sein als seine Kollegen: Er kannte sein Recht, und zwar genau. Aber daneben verfügte er über gesunden Menschenverstand. So verteidigte er die Ratten. Ja, Sie haben richtig gelesen: Die Ratten von Autun wurden juristisch belangt, weil sie die Getreideernte der Provinz vernichtet haben sollten. Und noch mehr: Chasseneuz stellte sich vor Ketzer. Obwohl er selbst ein gläubiger Katholik war, vertrat er Mitglieder der Waldenser, die der Ketzerei angeklagt worden waren.
Barthélemy de Chasseneuz ist in Rechtskreisen dafür bekannt, dass er einen umfangreichen Kommentar zum Gewohnheitsrecht der Grafschaft Burgund geschrieben hat. Der war von so großer Bedeutung, dass er noch 250 Jahre später den Schreibern des Code Napoléon von Nutzen war.
Wir werden uns heute mit einem anderen, weniger bekannten Buch aus seiner Feder beschäftigen, mit seinem Catalogus gloriae mundi, also übersetzt mit dem Katalog des Ruhms der Welt.
Artikeltext:
Alles hat seine Ordnung
Barthélemy de Chasseneuz war wie seine Zeitgenossen der festen Überzeugung, dass alles auf der Welt seine feste Ordnung habe. Aller Streit würde nur deshalb entstehen, weil die Menschheit nicht genau wüsste, wie denn nun diese Ordnung beschaffen sei. Dass ein König von Frankreich über einem Jongleur rangieren würde, das sei ja wohl klar. Aber wie wäre das mit dem König von Frankreich und dem König von Aragon? Wer käme da an erster Stelle?
Als guter Jurist setzte Chasseneuz sich hin und sichtete die Quellen. Auf mehr als 1.000 Seiten legte er anhand aller ihm zugänglichen theologischen, philosophischen und juristischen Quellen dar, welches Amt welchen Rang bekleiden würde, und zwar von der himmlischen Hierarchie über die soziale Rangordnung der Menschheit bis hin zur belebten und unbelebten Natur. 1529 wurde dieses Buch erstmals publiziert.
Geben wir es zu, juristische Texte neigen dazu, etwas schwer verständlich zu sein, noch dazu wenn sie in lateinischer Sprache verfasst sind. Trotzdem war Chasseneuz Buch von großer Bedeutung für alle, die sich mit Fragen des Zeremoniells zu beschäftigen hatten. All die Fürsten und Stadträte besaßen genügend Geld, um sich ein teures Buch zu leisten. So entschied der Frankfurter Sigmund Feyerabend irgendwann in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts, das Werk von Chasseneuz neu aufzulegen.
Feyerabend gehörte zu den erfolgreichsten Verlegern der frühen Neuzeit. Er zählte zu den reichsten Bürgern der Handelsstadt Frankfurt, und das wollte durchaus etwas heißen. Sein Erfolgsrezept war eine gewisse Skrupellosigkeit - Feyerabend war immer wieder in Prozesse verwickelt, weil er unerlaubte Nachdrucke hergestellt und kaiserliche Patente missachtet hatte - gemischt mit einem hervorragenden Gespür für den Markt und einer guten Hand für seine Mitarbeiter. Dies zeigt sich auch an seiner Ausgabe des Catalogus gloriae mundi von 1579. Er druckte die Erstausgabe nicht einfach nur nach, sondern heuerte den bedeutenden Buchillustrator Jost Amman an, um die theoretischen Überlegungen von Barthélemy de Chasseneuz in eindrückliche - und leicht verständliche(!) - Kupferstiche umzusetzen.
Mit Hilfe von Jost Ammans Bildern begriff der Leser der frühen Neuzeit sofort, wer an welcher Stelle der Hierarchie stand. Sehen wir uns das auf diesem Stich an: An der Spitze thront die heilige Dreifaltigkeit - und zwar Gottvater, Sohn und hl. Geist genau auf derselben Höhe, darunter kommt sofort die Jungfrau Maria. Auf der nächsten Ebene finden wir in der Mitte die Erzengel, zu ihrer Rechten einige Heilige, die vom hl. Johannes dem Täufer angeführt werden.
Zur linken der Erzengel, Engel, Cherubim und Seraphim breitet sich die katholische Hierarchie aus: Ganz oben die Päpste, darunter die Kardinäle, dann die Erzbischöfe, die Bischöfe, die Ordensgründer und Prälaten und so weiter und so fort. In diesem einen Bild sind viele, viele Informationen verdichtet zusammengefasst. Und zwar so viele, dass wir hier gar nicht den Platz haben, um das Bild in allen Details zu betrachten.
Die Ordnung der Welt in Bild und Text
Wer die frühneuzeitliche Welt verstehen will, muss sich mit Autoren wie Chasseneuz auseinandersetzen. Denn in seinem Werk wird deutlich, dass das Individuum, das ein Amt ausfüllte, zu seiner Zeit keinerlei Bedeutung hatte. Ob ein dummer, fauler und selbstsüchtiger Mensch Kardinal war oder ein intelligenter, fleißiger, altruistischer, hatte auf den sozialen Rang seiner Position keinen Einfluss. Die Ehre galt dem Amt, nicht dem Individuum.
Während wir heute fest daran glauben, dass das Individuum seinen Rang selbst bestimmt und in der Lage ist auf- (oder ab-)zusteigen, war soziale Mobilität in der frühen Neuzeit weder gewünscht noch beabsichtigt. Dass sie trotzdem existierte, verdrängten die Menschen genauso wie wir heute nicht wahrhaben wollen, dass die soziale Stellung eines Menschen wesentlich mehr von seinen Eltern abhängt als von allen Fähigkeiten, die vielleicht in ihm schlummern mögen.
Die Ausgabe von Chasseneuz’ Catalogus Gloriae Mundi von 1579 ist leider noch nicht digital einsehbar, aber die Bayerische Staatsbibliothek hat eine andere Ausgabe, erschienen 1571 in Venedig, ins Netz gestellt.
Das British Museum zeigt die 12 Stiche von Jost Amman, die in Chasseneuz’ Buch veröffentlicht sind, auf „Collection online“.
Die Karriere von Barthélemy de Chasseneuz wurde sogar verfilmt - allerdings sehr frei und an sein Leben gerade nur angelehnt. Auf youtube finden Sie - wahrscheinlich als Raubkopie - den zweistündigen Film „Hour of the Pig“.