Sie ist ein Skandal diese Carmen, die da das Herz des braven spanischen Offiziers José betört! Eine Zigeunerin! Eine Fabrikarbeiterin! Treulos, gesetzlos und doch so betörend. Carmen, wie sie Prosper Mérimée 1845 schuf, war ganz anders als die sittsamen Jungfern, die im väterlichen Wohnzimmer saßen und darauf warteten, dass um ihre Hand angehalten würde.
Schon die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die diese Carmen hat! Sie verdient sich selbst das Geld, das sie zum Leben braucht, und zwar in einer Zigarrenfabrik. Doch sie ist kein ausgebeutetes Opfer, sondern Herrin ihres Schicksals. Als sie durch eine impulsive Tat straffällig wird und ihre ehrliche Arbeit verliert, wird sie Mitglied einer Schmugglerbande.
Artikeltext:
Kein sittliches Frauenzimmer
Am skandalösesten aber ist ihre sexuelle Freiheit, und das 1845! Sie schläft mit Don José, um ihm für seine Hilfe bei ihrer Flucht zu danken, nur um ihn am anderen Morgen mit der Erklärung zu verlassen, man sei halt nicht füreinander geschaffen. Carmen ist verheiratet mit einem Räuberhauptmann, und liebt Don José, als der zum Räuberhauptmann wird. Als dieser jedoch ihren Ehemann ermordet und mit ihr ein neues Leben in Amerika beginnen will, verlässt ihn Carmen für einen Torero.
Carmen ist der Gegenentwurf zu allen weiblichen Tugenden, die man sich im bürgerlichen 19. Jahrhundert nur vorstellen konnte. Sie ist nicht lieb, nicht nett, nicht fürsorglich, nicht treu. Dafür strahlt sie eine Sexualität aus, die Männer wie Motten in ihren Lichtkreis zieht.
Nur ein mögliches Ende konnte man sich damals für so eine Frau vorstellen: Don José ersticht sie im Affekt und büßt am Galgen für seine Untat.
Mérimée hat mit dieser Gestalt einen weiblichen Urtyp geschaffen. Dessen Geschichte wurde und wird immer wieder neu erzählt, als Oper von Georges Bizet (1875) und als Film von berühmten Regisseuren wie Cecil B. DeMille (1915), Ernst Lubitsch (1918) und Carlos Saura (1983). Ob Eisrevue oder Ballett, Carmen ist in der Populärkultur angekommen und noch der größte Opernverächter ist in der Lage, wenigstens die Habanera zu summen.
Emanzipation!
Die uns hier vorliegende Prachtausgabe in französischer Sprache erzählt die Geschichte der Carmen illustriert von der Malerin Marguerite Frey-Surbeck. Erschienen ist das Buch im Kunstverlag Gonin, der 1926 gegründet wurde, nicht um Bücher zu produzieren, sondern um kleine Gesamtkunstwerke zu schaffen, bei denen sich Text und Bild gegenseitig in der Aussage unterstützen.
Die Illustratorin ist dabei nicht zufällig gewählt. Marguerite Frey-Surbeck war eine frühe Vertreterin der weiblichen Emanzipation und eine engagierte Kämpferin für das Frauenwahlrecht. Als Nichte eines Bundesrats, brach sie mit den bürgerlichen Kreisen, heiratete einen Künstler und behielt doch ihre Eigenständigkeit. Man sieht es an einer kleinen Geste: Sie stellte ihren eigenen Familiennamen dem ihres Mannes voran.
Marguerite Frey-Surbeck ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich die Rolle der Frau verändert hat, seit eine Carmen zum Bestseller wurde. Ein Skandal aber bleibt: Der Skandal, dass eine Carmen einen Don José nicht zu lieben vermag, gleich wie viele Opfer er seiner Liebe bringt. Kürzlich erließ Deutschland ein verschärftes Gesetz gegen Stalker, die Menschen verfolgen, weil sie genau dieses Skandalon nicht zu ertragen wissen.