Sehen Sie auch manchmal einem Menschen an der Nasenspitze an, was der sich denkt? Nun, kann sein, dass Sie recht haben, kann sein, dass Sie nicht recht haben. Das Ganze wäre auch überhaupt kein Problem, wenn wir nicht gelegentlich unser Handeln danach ausrichten würden, was wir glauben, dass der andere denkt. Fragen Sie jeden Paartherapeuten: Aus solchen Unterstellungen entsteht der schönste Streit. Und glauben Sie nicht, dass es einfacher wird, wenn dann auch noch ein abweichender kultureller Hintergrund dazukommt.
Solche Bedenken liegen Thomas Raucat fern. Der ganze Witz seiner Satire Die ehrenwerte Landpartie, im Original L'honorable partie de campagne, beruht darauf, dass Raucat seinen Protagonisten – Europäern und Japanern – in den Kopf hineinschaut und das Geschehen aus ihrer Perspektive wiedergibt. Für den europäischen Leser ist das von Raucat postulierte Denken seiner von ihm geschaffenen Japaner so absurd, dass er darüber nur lachen kann.
Der Inhalt der Geschichte selbst ist schnell erzählt: Ein Schweizer Diplomat will eine japanische Schönheit in sein Bett kriegen. Zu diesem Zweck lädt er sie zu einem Ausflug ein. Das bekommt ein japanischer Geschäftspartner mit. Im Irrglauben, der Schweizer wolle tatsächlich einen Ausflug machen, lädt er ihn nun seinerseits dazu ein. Aus den unterschiedlichen Vorstellungen, was peinlich und was angemessen ist, entsteht das entzückendste Chaos und so manche schlüpfrige Situation. Kein Wunder, dass der Roman im Frankreich der „années folles“ bzw. im London der „Roaring Twenties“ einen Riesenerfolg hatte. Dass der Autor Roger Poidatz den Skandal bereits bei der Veröffentlichung einkalkulierte, beweist sein selbstgewähltes Pseudonym: Thomas Raucat klingt französisch ausgesprochen wie das japanische Tomaro ka. Und das könnte man frei übersetzen mit: "Na, soll ich heute Nacht bei Dir bleiben?"
Geradezu brillant und überzeugend führt uns Thomas Raucat in die von ihm imaginierte Gedankenwelt der Japaner ein. Nehmen wir zum Beispiel das junge Mädchen, das der Schweizer Diplomat – sagen wir ruhig, wie es ist – missbrauchen will. Für sie ist das größte Problem nicht ihre eventuelle Vergewaltigung, die kalkuliert sie mit ein, sondern die dafür angemessene Kleidung. Die muss teuer sein und zwar teurer als das, was sie trug, als der Ausländer sie zum ersten Mal sah. Eine Frage der Ehre! Und ein Problem, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits ihre schönsten Kleider an. Sie stellt also innert weniger Tage eine noch teurere Ausstattung zusammen, was Raucat ausführlich und in allen Details erzählt. Natürlich lacht der Leser mit dem Autoren, als der schildert, dass sie vor lauter Ausstattung vergisst, vom reichlichen Geldgeschenk des Fremden wenigstens genug für ein Bahnticket zurückzuhalten. Und er lacht noch mehr, als sich das Problem löst, weil ihr die beiden, von ihr zum Ausflug eingeladenen Freundinnen das Geld schenken, so dass sie quasi ihre Einladung auch noch selbst bezahlen. Last but not least mokiert sich der Schweizer Verführer darüber, dass diese Japanerinnen immer was anderes anziehen, wo er sie doch nur an ihrer Kleidung erkennt. Die Gesichter sehen für ihn alle gleich aus.
Der Roman in ein kleines Feuerwerk an interkulturellen Missverständnissen. Raucat springt geradezu von einer Absurdität zur nächsten: Aber selbstverständlich schätzt eine japanische Geisha einen Fotoapparat höher als Schmuck. Er ist das optimale Statussymbol! Schmuck kann falsch sein, was man auf den ersten Blick nicht sieht. Den Preis eines Fotoapparats kann dagegen jeder im Verkaufskatalog nachschlagen.
Überhaupt, diese Geschenke. Sie müssen nicht zum Schenkenden oder dem Beschenkten passen. Sie müssen nur der Gelegenheit angemessen sein. Schenken ist eine hohe Kunst, aber nicht weil man dem Beschenkten eine Freude machen will, sondern weil das Geschenk genau austariert sein muss. Und so werden Karten, die man zuhause für den Bruchteil ihres Preises erhält, als kostbares Geschenk für die lieben Daheimgebliebenen gekauft.
Wer Die ehrenwerte Landpartie liest, ist zunächst beeindruckt. Roger Poidatz alias Thomas Raucat scheint die Japaner in- und auswendig zu kennen. Tatsächlich lebte Raucat nur zwei Jahre in Japan. Er war einer von fünfzig militärischen Ausbildern, die die französische Armee nach Japan schickte, um geeignete Kandidaten in speziellen Bereichen auszubilden. Poidatz war Spezialist für die Luftaufklärung. Er hatte sicher Kontakt zu seinen Schülern und anderen Militärs. Aber dass er fließend Japanisch sprach, darf doch bezweifelt werden. So kann man sich die Frage stellen, wie er mit Japanerinnen in Kontakt kam und ihr Denken kennenlernte. Wurde er nach hause eingeladen? Was weiß er aus eigener Erfahrung? Was aus der Literatur? Und wo steigert der Autor den Effekt um der Komik willen? Kurz: Wie realistisch ist Raucats Schilderung der japanischen Gedankenwelten?
Tatsächlich, während die Franzosen hingerissen über Raucats Geschichte kicherten, erntete der Autor damit in Japan herbe Kritik. Die Japaner hielten die Gedanken der japanischen Protagonisten für alles andere als realistisch. Sie empfanden den Text eher als eine Verunglimpfung ihres Denkens.
Und damit sind wir wieder bei unserer Eingangsfrage: Können wir erraten, was der andere denkt? Oder ist es nicht vielmehr eine Anmaßung, die Gedanken eines anderen überhaupt erraten zu wollen? Und geht es nicht noch weiter: Darf ein Volk über die Wertvorstellungen eines anderen Volks lachen? Was darf Satire? Und was darf sie nicht? Wer entscheidet, ob ein Witz angemessen ist: Der Lachende oder der Ausgelachte?
Eines nämlich ist klar: Unbeschwert lachen über die heiligsten Überzeugungen anderer ist spätestens seit dem Attentat auf Charlie Hebdo zu einem Politikum geworden.