Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Dann kann es helfen, ein paar Schritte zurückzugehen, die Perspektive zu ändern. Einen solchen Schritt tat André Gide 1926 mit „Die Falschmünzer“. Darin fragt er nach nichts Geringerem als „der Realität“ und als Hilfe zur Unterscheidung von Echtem und Unechtem im Leben dient ihm die ökonomische Metapher des Geldes.
André Gide (1869-1951) konnte sich als junger Mann für eine brotlose Schriftstellerkarriere entscheiden, seine familiäre Herkunft entledigte ihn aller finanzieller Sorgen. Das war auch nötig, denn zehn Jahre lang musste er seine ersten Gehversuchen im Literaturbetrieb selbst finanzieren. Gide schrieb zunächst unter dem Eindruck des avantgardistischen Symbolismus. So kritisch er gegenüber Kollegen war, so anspruchsvoll stand Gide seinem eigenen Werk gegenüber. Nach zahlreichen Veröffentlichungen akzeptierte er erst für seine „Falschmünzer“ das Etikett Roman, das Werk schien ihm ausreichend komplex.
Die Handlung ist tatsächlich verwirrend und fesselt vor allem auf einer theoretischen Ebene, weil Gide das Buch wie eine russische Matroschka gebaut hat. Der Erzähler Edouard beschreibt, wie er einen Roman verfasst. Doch Edouard wird seinerseits von einem übergeordneten Erzähler gelenkt. Ein Roman über die Entstehung eines Romans! Wir wandeln durch die Gänge eines Knabenpensionats Anfang des 20. Jahrhunderts; wir erleben mit, wie sich die Jungs von ihren grossbürgerlichen Familien zu emanzipieren suchen. Und dabei sind wir mittendrin in existenziellen Fragen nach Echt und Unecht, nach wahren Werten und überkommener Ethik. Die Eleven gieren danach, die elterliche Moral durch ihre eigene zu ersetzen. Aber wie soll das gehen in dem beklemmenden Korsett, in das die Gesellschaft sie hineinzwingt? Plötzlich werden sie und ihre Familien erpresst; eine Geschichte um Falschgeld, das unter den Gymnasiasten kreist. Einer von ihnen kämpft dabei auch noch mit der Erkenntnis, dass sein Vater, ein angesehener Bürger, gar nicht sein leiblicher Erzeuger ist. Immer wieder umkreist Gide so in verschiedenen Lebensbereichen die Fragen von Sein und Schein, von Authentizität und Trug. Und Gide überträgt die Metapher des (Falsch-)Geldes auf alles, sogar auf die Sprache, wenn er einen hochstapelnden Schriftsteller auftreten lässt. Sprache ist wie Geld: krisenanfällig und unzuverlässig. Das gibt Nicht-Schriftstellern zu denken. Drehen wir das Bild um, verstehen wir vielleicht besser unsere Geldwirtschaft, wenn wir an Manipulation durch Sprache denken, an sprachliche Ausrutscher, an die Schönheit der Worte: Geld ist dann so krisenanfällig und unzuverlässig wie Sprache.
Ein Kritiker bemerkte, dass auch auf Gides „Falschmünzer“ zutreffe, was über Musils „Mann ohne Eigenschaften“ gesagt wurde: „Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, dass die Geschichte, die in ihm erzählt werden soll, nicht erzählt wird.“ Gide konkurriert mit den Grossen seiner Zeit: Joyce, Musil, Proust und Faulkner, er stellt den Erzähler in das Zentrum, zerschneidet die Handlung, überlagert Ebenen und gilt zurecht als Mitbegründer der modernen europäischen Literatur. Aber gerade seine „Falschmünzer“ bieten Stoff zum Nachdenken über uns, unser Leben, die Wahrheiten, denen wir glauben, und die Alternativen, die wir vielleicht nicht bedenkenlos verwerfen sollten.