Zwei Fragen haben Denker von der Antike bis zur frühen Neuzeit entzweit wie kaum etwas anderes. Erstens: Gibt es einen Gott? Zweitens: Wie kann es sein, dass Gott, wenn er existiert, Übel in der Welt zulässt? Einer der prominentesten Diskutanten in dieser Frage war Gottfried Wilhelm Leibniz. Wie er versucht, den Glauben an Gott mit der Existenz von Übel in der Welt zu vereinbaren erklären wir in diesem Artikel.
Artikeltext:
Der letzte Universalgelehrte
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) gilt als einer der letzten Universalgelehrten der Geschichte. Solche Allround-Talente, die sich mit Mathematik, Philosophie, Jura, Physik, Sprachen und Gottweißwas auskannten, hatte es schon immer gegeben. In der Antike war da Aristoteles, der Fische sezierte und gleichzeitig eine Dramentheorie schrieb, die bis heute Anwendung findet. Aus dem islamischen Kulturkreis gab es Ibn Sina (latinisiert als Avicenna), im Mittelalter Albertus Magnus, in der Renaissance Leonardo da Vinci.
Und im Barock eben Leibniz. Um einen kurzen Einblick in die mannigfaltigen Tätigkeiten dieses umtriebigen Denkers zu gewähren, hier eine Liste von Dingen, mit denen er sich beschäftigte: Er plante den Bau eines Unterseeboots, erbrachte einen Beweis für das Unterbewusste des Menschen, dachte darüber nach, wie man Türschlösser verbessern könnte, erfand Teile für eine der ersten mechanischen Rechenmaschinen, beschrieb in der Mathematik das Binärsystem und entwickelte die Infinitesimalrechnung und war Mitbegründer der modernen Sprachwissenschaft. Das passt auf keinen Grabstein! Im Verlauf des 18. Jahrhunderts starb die Spezies der Universalgenies jedoch allmählich aus, da sich die Wissensgebiete derart vergrößerten, dass kein einzelner Denker, auch nicht der talentierteste, auf allen gleichzeitig brillant sein konnte. Man musste sich zwangsläufig spezialisieren.
Das Theodizeeproblem
Als Universalgelehrter beschäftigte sich Leibniz auch mit einer der wichtigsten Fragen, die die Menschheit seit Jahrtausenden umtrieb. Wie kann es sein, dass Gott, an dessen Existenz schließlich damals die meisten Menschen glaubten, Übel in der Welt zulässt? Wenn man, wie zumindest im christlichen Gottesverständnis verankert, davon überzeugt ist, dass Gott allmächtig, allwissend und allgütig ist, hat man nämlich ein großes Problem. Das lässt sich in etwa so beschreiben:
Entweder Gott will Übel beseitigen, aber er kann es nicht – das kann aber nicht sein, denn Gott ist allmächtig.
Oder er kann es und will es nicht, was auch nicht sein kann – denn er ist allgütig.
Oder er will es nicht und kann es nicht – was logischerweise auch nicht sein kann.
Lösungsversuche
Für dieses Problem gibt es zahlreiche Lösungsversuche. Vielleicht der einfachste ist wohl, Atheist zu werden. Man kann auch versuchen, den Widerspruch zwischen Gott und Übel aufzulösen, indem man sagt, das Übel sei in Wahrheit kein Übel, sondern vielmehr ein Mangel an Gutem. Dann hat man den Vorwurf, ein allgütiger Gott könne unmöglich Böses hervorbringen abgewendet, indem man sagt, er habe eben doch Gutes hervorgebracht, aber hier und da mangele es den Menschen eben noch an der größtmöglichen Menge des Guten. Was in Ordnung ist, denn wäre der Mensch perfekt, wäre er ja Gott. Andere sagen, wir brauchen das Schlechte, Hässliche, Verdorbene in der Welt, um überhaupt das Gute, Schöne und Reine zu erkennen. Kant sagte, das Problem sei schlicht eine Überforderung der menschlichen Vernunft, die hier an ihre Grenzen stoße. Und was sagt Leibniz?
Die beste aller möglichen Welten
Leibniz kommt in seiner Abhandlung zum Schluss, dass die Existenz Gottes durchaus nicht unvereinbar mit der Existenz von Übel in der Welt sei. Unsere Welt sei – und diese Formulierung sollte ihm noch viel Ärger einbringen – „die beste aller möglichen Welten“. Was meint er damit? Die Grundidee ist, dass es unzählige mögliche Welten gibt. Welten, die wir uns vorstellen können, die genauso lange existieren wie unsere und genauso voll ausgestaltet sind wie unsere, aber sich in manchen Dingen von der unseren unterscheiden. Zum Beispiel können wir uns eine Welt vorstellen, in der es nur vier Kontinente gibt. Oder eine Welt, in der alle Menschen dunkelhaarig sind. Zweitens behauptet Leibniz, dass alles, was ist, durch irgendeinen Grund vollständig erklärbar sein müsse. Die alleinige Tatsache also, dass unsere Welt existiert, bedeutet, dass es einen Grund dafür geben muss, dass sie existiert. Es heißt aber auch, dass das Übel in unserer Welt irgendwie erklärbar sein muss. Gott hat einen guten Grund, Übel zuzulassen, auch wenn wir ihn nicht kennen oder verstehen. Wir sehen einfach nicht das große Ganze. Wir denken zwar, wir könnten in einer besseren Welt leben, wenn sie genauso wäre wie unsere minus Krieg, Totschlag und Krankheit. Aber Gott weiß viel mehr als wir. Seine Allwissenheit bedeutet, dass er alles, was jemals passiert ist und jemals passieren wird, sieht. Nur er kennt alle möglichen Welten und weil er auch allgütig und allmächtig ist, heißt das, dass er mit unserer Welt tatsächlich die beste aller möglichen Welten ausgesucht hat. Wir können das womöglich nicht nachvollziehen, aber das liegt nicht daran, dass es nicht stimmt, sondern vielmehr daran, dass wir es nicht verstehen können.
Das große Ganze
Was Leibniz versucht, ist Übel zu relativieren, indem er es in größere Zusammenhänge einordnet. Ein damit verwandter spannender Gedanke, den er in seinem Traktat entwickelt, ist, dass alles miteinander verbunden ist. Jeder Mensch, jedes Ereignis, jedes Objekt steht in zahllosen Beziehungen zu zahllosen anderen Menschen, Ereignissen und Objekten. Die Vorstellung, dass man einfach alles Übel subtrahieren könnte und alles andere würde gleich bleiben, ist naiv. Auch die kleinste Veränderung in der bestehenden Welt könnte viele, von uns unvorhergesehene Konsequenzen haben. Ein kleines Übel zu beseitigen, könnte sogar zu noch größerem Übel führen. Man denke zum Beispiel an die Entwicklung von Impfstoffen im 19. Jahrhundert und den englischen Landarzt Edward Jenner, der seinen 11-Monate alten Sohn zum Experimentieren mit Kuhpockenviren infizierte. Solche moralisch höchst fragwürdigen Experimente an lebenden Menschen sind sicherlich eine Art von Übel und doch führten sie am Ende zur Entdeckung des Lebendimpfstoffs, der dazu beitrug Millionen von Menschen das Leben zu retten und manche Krankheiten vollständigen auszurotten.
Im späten 20. Jahrhundert hat eine Idee aus der höheren Mathematik Eingang in die breite Populärkultur gefunden: der sogenannte Schmetterlingseffekt, benannt nach dem viel zitierten Satz des Mathematikers und Meteorologen Edward Lorenz „Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“. Die, theoretisch jetzt völlig unzulässig vereinfachte Antwort ist natürlich ja. Diese Idee, dass die Welt ein ‚deterministisches dynamisches System‘ ist und jede Veränderung in diesem System unberechenbare Auswirkungen am anderen Ende der Welt auslösen kann, wurde von Filmschaffenden und Autoren begeistert aufgenommen und in zahlreichen Filmen, Büchern und Theaterstücken verarbeitet. Vielleicht entspricht das nicht im Detail der von Leibniz ausgearbeiteten philosophischen Argumentation, aber der Kerngedanke ist ähnlich. Die Welt besteht aus komplexen Zusammenhängen und eben nicht aus schlichten Gleichungen wie Gott = gut, Welt = Übel, also kann Gott Welt nicht geschaffen haben. Übel ist nicht eindimensional und lässt sich leider nicht einfach aus der Gleichung streichen.
Ein barocker Shitstorm?
Mit seiner These machte sich Leibniz allerdings nicht überall beliebt, vor allem nicht bei seinem französischen Kollegen François-Marie Arouet, besser bekannt als Voltaire. Der schrieb als Antwort seine satirische Novelle Candide oder die beste aller Welten, eine ebenso schreckliche wie schrecklich komische Geschichte darüber, wie schlimm die Welt in Wirklichkeit ist. An jeder Ecke gibt es Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Krieg und trotz allem verkündet der naive Protagonist bis zum Ende, das sei ganz sicher die beste aller Welten. Ich weiß nicht, ob man das einen barocken Shitstorm nennen kann, denn ein Shitstorm meint immer, dass eine Äußerung sehr viele heftige und öffentliche Gegenstimmen in sehr kurzer Zeit provoziert. Aber ich bin mir sicher, Leibniz und Voltaire hätten sich auf Twitter einen ordentlichen Schlagabtausch geliefert.
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