Eigentlich ist er ein echt guter Typ, dieser Michális Rússis, Vogt von Kastropyrgos. Er ist jemand, mit dem man in guten Tagen gerne ein Glas oder zwei zusammen trinken möchte. Michális ist pragmatisch, weltoffen und tolerant, kurz genau die Sorte Mensch, die nie auf die Idee käme, irgendeinen Konflikt mit Waffen auszutragen. Das Problem ist nur: Michális lebt nicht in guten Tagen, sondern während des griechischen Befreiungskampfs. Damals machte sich ein Häufchen miteinander zerstrittener Patrioten daran, die Türken aus dem Lande zu jagen. Natürlich nicht ausschließlich aus Patriotismus, sondern um möglichst viel für sich selbst herauszuschlagen. Michális findet das ein bisschen übertrieben und vor allem völlig überflüssig. Warum das Leben riskieren, wenn man sich doch in den vergangenen Jahrhunderten gut mit den Türken arrangiert hat?
Leider ist es bald aus mit dem sich Arrangieren. Michális steht unverschuldet vor der Wahl, den Glauben oder das Leben zu verlieren. Doch Michális wäre nicht der Pragmatiker, der er ist, würde er sich nicht ohne allzu viele Gewissensbisse für das Leben entscheiden. Nur zu dumm, dass die Geschichte damit noch nicht endet. Immer wieder muss er Entscheidungen treffen, die alle gängigen Vorstellungen von Ethik und Moral fröhlich ad absurdum führen. Auch wenn seine Geschichte letztlich gut ausgeht, lässt sie den Leser mit der bohrenden Frage zurück, wie er sich selbst anstelle von Michális verhalten hätte.
Es ist der Genialität des Autors Dimitrios Rodopoulos zu verdanken, dass jeder Leser irgendwann im Verlauf des Buchs beginnt, die eigenen Moralvorstellungen auf den Prüfstand zu stellen: Lohnt es sich wirklich, aus kompromissloser Prinzipientreue Folter und Hungertod zu erleiden, wenn man stattdessen überleben, ja im Kampf ums Vaterland zum entscheidenden Sieg beitragen kann?
Was uns heute reichlich hypothetisch erscheint, war für Dimitrios Rodopoulos Lebensrealität. Er war Zeitzeuge, als die Nationalsozialisten sein Land überschwemmten. Nur wenige Kilometer von seinem idyllischen Sommersitz Rapsani entfernt, beging die deutsche Wehrmacht ihre Massaker. Während Rodopoulos auf seinem Landsitz Worte zu Papier brachte, wurden seine Landsleute gefoltert, ins Gefängnis verbracht, gar brutal getötet. Dimitrios Rodopoulos protestierte nicht. Stattdessen gestaltete er aus der Biographie seines Vorfahren die Geschichte des Michális Russis, der sich fürs Überleben entscheidet.
Wer die griechische Geschichte kennt, bei dem werden vor allem die prophetischen letzten Kapitel einen bitteren Nachgeschmack hervorrufen. In ihnen lässt der Autor zwei Protagonisten aufeinandertreffen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Den scheinbar so feigen Popen, den Michális dafür verantwortlich macht, den Krieg aus eigenem Interesse vom Zaun gebrochen zu haben, und den zurückgekehrten Michális Russis, der nach Rache für sein völlig durcheinandergewirbeltes Leben giert. Irgendwie einigen sich die beiden dann doch. Das Leben kann weitergehen, weil Michális versteht, dass auch der Pope ein Getriebener war, der in einer unüberschaubaren Welt die ihm zum damaligen Zeitpunkt richtig scheinenden Entscheidungen traf.
Die Realität endete nicht so harmonisch. Nach der Befreiung vom nationalsozialistischen Joch brach der heute so gerne vergessene griechische Bürgerkrieg aus. Er kostete Zehntausende das Leben. Hunderttausende flohen außer Landes. Dimitrios Rodopoulos gehörte nicht zu ihnen. Er blieb ein kritischer Beobachter, der lieber über das Geschehene schrieb, als selbst zu handeln.