Wer den Namen Conrad Gessner nennt, denkt zumeist an seine Historia animalium, seine Geschichte der Tierwelt, besser bekannt als das Thierbuch. Kein Wunder! Nur wenige Werke können hinsichtlich ihrer Illustrierung mit Gessners zoologischer Enzyklopädie mithalten. Die meisten Nutzer beschränken sich darauf, diese wunderschönen Holzschnitte zu betrachten und verzichten auf die Lektüre von Gessners Texten. Dabei wären gerade sie so interessant. Sie stehen nämlich zwischen Mittelalter und Aufklärung, übernehmen teilweise kritiklos mittelalterliche Fabeln, während sie auf jegliche religiöse Verbrämung verzichten. Bei Gessner ist das Tier nicht mehr Zeichen Gottes, sondern Fleischlieferant und Bestandteil von Arzneien.
Das MoneyMuseum ist stolz darauf, ein Exemplar der deutschen Übersetzung von Gessners Thierbuch aus dem Jahr 1606 zu besitzen. Es handelt sich um eine Art Lizenzausgabe, für die der Heidelberger Universitätsbuchhändler Andreas Cambier mit den Nachfolgern von Christoph Froschauer zusammenspannte. Der Zürcher Verlag lieferte gegen Gebühr die Holzschnitte der lateinischen Erstausgabe, mit deren Hilfe der Heidelberger Verlag eine gekürzte deutsche Fassung produzierte.
Tiere: ein gutes Geschäft
Warum bezahlte Christoph Froschauer Mitte des 16. Jahrhunderts Conrad Gessner dafür, alle Tiere der Welt in mehreren Bänden zu beschreiben? Warum beschäftigte er eine ganze Werkstatt von Künstlern damit, teure Holzschnitte zu diesen Texten anzufertigen? Ganz einfach: Aus ökonomischen Gründen. Tiere waren damals spannend und versprachen ein gutes Geschäft. Die gebildete Welt wollte mehr wissen über die exotische Fauna. Schließlich hatte man im 16. Jahrhundert erstmals wieder seit römischer Zeit eine reelle Chance, seltene Tiere live zu erleben.
Werfen wir einen Blick zurück: Seit der Antike gehörte die Menagerie zur Selbstdarstellung von Herrschern. Die römischen Kaiser machten sich eine Ehre daraus, möglichst exotische Tiere im Circus umbringen zu lassen. Sie illustrierten damit, wie weit sich das römische Reich erstrecken musste, wenn es in der Lage war, Tiere von so weit entfernten Orten zusammenzubringen. Diese Vorstellung hatte Auswirkungen auf das Mittelalter. Wer auf sich hielt, verfügte über eine kleine Menagerie oder wenigstens einen Bärengraben. Erhielten große, international vernetzte Monarchen wie Karl der Große schon mal einen Elefanten geschenkt, mussten sich lokale Machthaber mit Hirschen, Wildschweinen und allenfalls einem Adler begnügen. Mit anderen Worten: Je besser bestückt eine Menagerie war, umso besser für das Prestige ihres Besitzers.
Nun boten sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts ganz neue Möglichkeiten. Der portugiesische König Manuel I. zum Beispiel erhielt von seinen „Entdeckern“ u. a. einen Elefanten und ein Rhinozeros, die er prompt nach Rom weiterschickte, um die Unterstützung des Papstes zu erwerben. Im Jahr 1580 reckten die Augsburger die Hälse, weil in ihrer Stadt eine kleine Straußenherde rastete, die von Venedig nach Dresden getrieben wurde, weil der Kurfürst von Sachsen sie gekauft hatte. Wer nahe dem Bodensee lebte, der ergatterte vielleicht eine Einladung in die Menagerie des Konstanzer Bischofs, wo es Pfauen und Löwen und sogar ein Kamel zu sehen gab.
Durch den gelegentlichen Kontakt mit exotischen Tieren wurde das Interesse der gebildeten Welt an ihnen nachhaltig erhöht. Und dieses Bedürfnis befriedigte der findige Unternehmer Christoph Froschauer. Er besoldete den Zürcher Universalgelehrten Conrad Gessner, ein umfassendes Buch über Tiere zu schreiben. Gessner war dazu prädestiniert. Er hatte vor seiner Rückkehr nach Zürich ein unstetes Leben geführt und hielt Kontakt zu Dutzenden von Gelehrten in ganz Europa. Sie spannte er alle für sein Projekt ein, schrieb Tausende von Briefen, erhielt Hunderte von Bildern und Exzerpten, und stellte so zusammen, was die gebildete Welt Europas Mitte des 16. Jahrhunderts über ihre Fauna wusste. Die Abbildungen wurden in der hauseigenen Kunstwerkstatt auf Holzschnitte kopiert. Und so erschien in den Jahren zwischen 1551 und 1558 die opulenteste Enzyklopädie aller Tiere in vier resp. fünf Bänden, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Gessners Werk teilt sich in die lebendgebärenden, vierfüßigen Landtiere, die eierlegenden Landtiere, also die Amphibien und die Reptilien, die Vögel, und zuletzt die Fische und die Wassertiere. Nach seinem Tod erschien 1587 ein weiterer Band über Schlangen und Skorpione.
Gessners Buch wurde zu dem, was wir heute eine Benchmark nennen würden. Jahrhunderte lang musste sich jeder Autor hinsichtlich Vollständigkeit und Illustrationen an Gessner messen lassen.
Das Tier im Mittelalter
Um aber zu verstehen, in welcher Weise das Thierbuch revolutionär war, müssen wir es mit seinem wichtigsten Vorgänger im Mittelalter vergleichen. Der ist unter der Bezeichnung Physiologus bekannt und entstand irgendwann im 2. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria. Wichtiger als der ursprüngliche Text wurde der Kommentar eines Theologen – vielleicht des Kirchenvaters Basilius – im 4. Jahrhundert n. Chr. Er deutete nämlich jedes einzelne der 48 behandelten Wesen – der Physiologus beschränkte sich nicht auf Tiere, sondern schrieb auch über einige Pflanzen und Steine – im Sinne der Heilsgeschichte. Deswegen lag der Schwerpunkt des Physiologos nicht auf biologischen Informationen, sondern auf der Rolle des Tiers in Gottes Plan.
Der Elefant zum Beispiel galt als Pendant zu Adam und Eva. Man glaubte, dass diese Art keinen natürlichen Drang zur Paarung besitze. Wenn es notwendig war, Nachwuchs zu zeugen, versteckten sich die Tiere tief im Mandragora-Gebüsch. Die Schlange – wir erinnern uns an die Vertreibung aus dem Paradies – galt als der natürliche Feind des Elefanten, den dieser gnadenlos zerstampft, wo immer er ihn trifft. Deshalb finden wir heute noch so viele Elefanten an Mauern und Portalen von romanischen Kirchen. Sie dienten als Wächter, die das Böse fernhielten.
Gessners Elefant
Der Künstler, der den Holzschnitt für Gessners Elefant schuf, dürfte viele Wächterelefanten gesehen haben. Faltohren, Ringelrüssel und Stumpfbeine ähneln stark dem mittelalterlichen Vorbild am Basler Münster.
Auch Gessner musste sich auf die Literatur verlassen. Und so übernimmt er die Behauptung, der Elefant sei besonders keusch und schamhaft. Alles, was Gessner niederschrieb, stammte aus der Literatur. Er sammelte Anekdoten und Geschichten, kümmerte sich nur wenig um das, was wir heute Verifizierung nennen würden, und schuf so einen unterhaltsamen Text. Mit moderner Zoologie hat das nichts zu tun.
Der Igel - im Physiologus
Beim Elefanten kann man ja verstehen, dass Gessner auf fremde Beobachtungen angewiesen war. Wie aber ist das bei Tieren, die der Autor hätte beobachten können, wenn er nur seine Gelehrtenstube verlassen hätte?
Nehmen wir den Igel als Beispiel. Wer den Physiologus konsultiert, amüsiert sich wahrscheinlich großartig über die Vorstellung, wie der Igel sein Futter ergattert: „Er geht zu einem Weinstock und steigt auf die Traube und reißt die Beeren ab und wirft sie auf die Erde. Darauf wirft er sich selbst von oben herab und die Beeren haften an seinen Stacheln, und er bringt sie seinen Kindern und lässt die Trauben leer an der Weinrebe." Das deutet der Kirchenvater natürlich im christlichen Sinn: „Und du nun Mensch, stelle dich zu dem rechten und wahren Weinstock, welcher ist Christus ... und überlege, wie konntest du zulassen, dass der böse Geist in dein Herz stieg. ... Wie eine Traube ließest du deine Seele leer zurück.“
Wir können nur den Kopf schütteln. Schließlich weiß heute jeder Gartenbesitzer, dass der Igel sein bester Verbündeter ist, wenn es um die Vernichtung von Schnecken und Insekten geht. Pflanzliches Material können Igel gar nicht verdauen. Wenn ein Igel einen Apfel zwischen den Pfoten hält, dann nur, um nachzugucken, ob er eine leckere Made darin entdeckt.
Der Igel - bei Gessner
Gessner hat sicher einen Garten gehabt. Genutzt, um den Igel zu beobachten, hat er ihn nicht. Er gehört noch zu den Wissenschaftlern, die die geschriebenen Quellen höher achten als die Beobachtung. Francis Bacon, erster Vertreter des Empirismus, war noch nicht einmal geboren, als Gessner seinen vierten Band der Historia animalium publizierte.
Gessner zitiert also selbstverständlich den Physiologus und beschreibt, wie der Igel loszieht, um Weintrauben und Äpfel auf seine Stacheln zu spießen und in seine Höhle zu schleppen.
Will man einen Unterschied zum Physiologus suchen, dann liegt er darin, dass Gessner auf alle heilsgeschichtlichen Aspekte verzichtet. Stattdessen listet er sorgfältig auf, welchen Nutzen ein Mensch vom Igel hat (man kann seine stachlige Haut als Kleiderbürste verwenden oder eine effektive Waffe gegen wilde Hunde daraus basteln). Gessner erklärt, wie man sein Fleisch am besten kocht und welche Körperteile des Igels als Arznei dienen können. Überhaupt steht bei Gessner der Nutzen eines Tieres im Mittelpunkt. So schreibt er nicht ein Kapitel über das gemeine Hausrind, sondern deren drei: 1.) Ochs und Kuh, 2.) Stier, 3.) Kalb.
Zusammenfassend kann man vielleicht sagen, dass jeder Text Gessners genauso gut oder so schlecht ist wie die Quellen, die er dafür benutzt.
Das Einhorn
Das gilt natürlich auch für die Fabeltiere, deren Existenz Gessner nicht bezweifelt. Er stellt vom Einhorn lediglich fest, dass in Europa noch keines gesehen wurde, weswegen er sich auf die Literatur verlassen muss. Und das tut er auch. Er zitiert Plinius, Aelianus, Philostratos, Aristoteles und andere mehr. Zum Fleisch weiß er keine Aussage zu treffen, nimmt aber an, dass es nicht essbar sei. Dafür weist er auf den hohen Wert des Horns hin. Zweifel hegt er, wenn er Albertus Magnus zitiert, der behauptet, eine Jungfrau könne das Einhorn fangen. Aber an der grundsätzlichen Existenz des Einhorns zu zweifeln? Wie könnte er? In jeder besseren Wunderkammer lag das Horn eines Einhorns.
Das Hörnlein des Rhinozeros’
Wie die Bebilderung der Historia animalium zustande kam, dafür ist die Abbildung des Rhinozeros alias Nashorn (rhinos = Nase; keras = Horn) ein wunderbares Beispiel. Wir erinnern uns: 1515 erhielt Manuel I. ein Rhinozeros. Bevor er es dem Papst schenkte, stellte er es in seiner eigenen Menagerie aus. Bei dieser Gelegenheit entstand eine Skizze, die zusammen mit zwei ausführlichen Beschreibungen Albrecht Dürer in die Hände geriet. Der erfolgreiche Unternehmer in Sachen Kupferstich witterte ein gutes Geschäft. Schließlich sprach alle Welt von diesem Tier. Sogar der französische König hatte sich nach Marseilles bemüht, um es zu sehen. Für alle, die dazu keine Gelegenheit hatten, fertigte Dürer günstige Einblattdrucke an und vertrieb sie auf allen Märkten. Ein profitables Geschäft.
Leider hatte der Künstler selbst nie die Chance, das Nashorn zu sehen. Deshalb unterliefen ihm in seiner Darstellung entscheidende Fehler. Sein Nashorn gleicht einem vierbeinigen Ritter in Plattenpanzer und Kettenhemd. Dürer missdeutete die in der Skizze angegebenen Falten des Tieres als eine Art Naht. Überhaupt erinnert die Haut eher an einen Schildkrötenpanzer, wie man ihn in jeder besseren Wunderkammer zu sehen bekam. Besonders berühmt: jenes merkwürdig verdrehte Hörnlein oben auf der Schulter des Tieres, das als „Dürerhörnlein“ in die Zoologie eingegangen ist. Hier hatte der Künstler wohl einen gemalten Schnörkel falsch interpretiert.
Froschauers Kunstwerkstatt nutzte Dürers Holzschnitt mit Sicherheit als Vorbild für das Thierbuch. Die Darstellung ist eine exakte Kopie.
Die Fauna auf 4.500 Seiten
Elefant, Igel, Einhorn und Rhinozeros sind nur einige wenige Beispiele aus der Fülle der großartigen Tierillustrationen des Buchs, die es so berühmt gemacht haben. Gessners Thierbuch war das umfassendste, was die Gelehrten bis dahin gesehen hatten. Es ermöglichte ihnen erstmals, über eine Art Systematik nachzudenken. Deshalb gilt Gessner als Vater der Zoologie. Er wurde zu einer Basis, von der aus man weiter arbeiten konnte. Und das taten seine Nachfahren. Einen von ihnen, Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, werden wir wir in einer späteren Ausgabe von Bookophile präsentieren.