Es war ein Leben, wie es nur in der Umbruchzeit zwischen der feudalen Welt der Duodezfürstenhöfe und der bürgerlichen Welt des Biedermeier möglich war, ein Leben, das selbst den besten Stoff für jeden Roman darstellen würde: Johann Gottfried Seume (1763-1810) war Soldat, Jurist, Berufs-Tourist, Publizist und einer der bekanntesten Autoren der deutschen Aufklärung.
Artikeltext:
Soldat wider Willen, aber nicht contre coeur
Johann Gottfried Seume wurde 1763 als Sohn eines sächsischen Bauern geboren. Ein aufgeklärter Adliger ermöglichte dem intelligenten Jungen Schulbesuch und Theologiestudium. Aber ein Priester werden? Das lag dem abenteuerlustigen Seume nicht. Er brach das Studium ab, wollte nach Frankreich, kam auf seiner Reise allerdings nur bis ins sächsische Vacha. Dort lauerte ein hessisches Werbekommando auf kräftige, aber naive junge Männer. Als Seume am anderen Morgen erwachte, hatte er einen Vertrag unterschrieben und war bereits auf dem Weg ins kanadische Halifax. Der hessische Landgraf verdiente nämlich hervorragend, indem er seine Soldaten an die Briten vermietete. Doch bei Seumes Ankunft war der Krieg mehr oder weniger schon vorbei. Seume wurde wieder auf ein Schiff gesteckt, nach Bremen zurücktransportiert, wo er nicht auf das nächste Himmelfahrtskommando warten wollte, sondern desertierte. Diesmal ging er einem preußischen Werbekommando in die Falle, was ihn vier Jahre seines Lebens kostete. Er verbrachte sie teils beim täglichen Wachdienst im preußischen Emden, teils im Gefängnis, wo er seine Strafe für seinen gescheiterten Desertationsversuch verbüßte.
Seumes Leben änderte sich grundsätzlich im Jahr 1787. Damals bekam er Urlaub und nützte ihn - na? - zur Desertation. Er ging nach Leipzig, um dort Jura zu studieren. 1792 habilitierte er sich. Damit hatte er quasi die Seiten gewechselt. Nun war er nicht mehr der einfache Soldat, über dessen Schicksal andere bestimmten, sondern er konnte als Sekretär eines russischen Generals selbst Entscheidungen treffen, die in das Leben der ihm Unterstellten eingriffen. Seume war kein Pazifist. Er war als russischer Offizier in die Niederschlagung des polnischen Aufstands von 1794 verwickelt. Auch er dürfte in seiner Funktion Gräueltaten befohlen oder nicht verhindert haben. Seume war dabei, als die dritte polnische Teilung umgesetzt wurde, mit der Polen aufhörte zu existieren.
Doch dann starb am 17. November 1796 die Zarin Katharina II. Ihr Sohn Paul I. erließ einen Befehl, in dem er alle zu diesem Zeitpunkt beurlaubten russischen Offiziere aufforderte, auf ihre Posten zurückzukehren. Wer sich nicht zum festgesetzten Termin einfand, wurde unehrenhaft entlassen. Seume gehörte zu diesen beurlaubten russischen Offizieren. Doch als er von dem Befehl erfuhr, war der Termin schon längst verstrichen. Er verlor damit nicht nur seine Arbeit und seinen Offiziersrang, sondern auch alle erworbenen Pensionsansprüche. Zeit seines Lebens sollte Seume mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen kämpfen. Doch vor allem stellte sich ihm eine drängende Frage: Womit sollte er seinen Lebensunterhalt finanzieren?
Seume wurde Publizist. Noch 1796 erschien sein Büchlein über den polnischen Aufstand. Im folgenden Jahr publizierte er einen Gedichtband, eine Biographie der Zarin Katharina sowie das Werk, das wir Ihnen hier vorstellen: Zwei Briefe über die neusten Veränderungen in Russland seit der Thronbesteigung Pauls I.
Der Inhalt dieses Werks entspricht genau dem, was der Titel zu erkennen gibt. Seume schrieb also über Tagespolitik, und damit wusste sein Verleger Georg Joachim Göschen, dass die sächsische Zensur ganz besonders aufmerksam mitlesen würde. Schließlich war nur wenige Jahre zuvor in Frankreich der König hingerichtet worden. Alle Souveräne waren seitdem extrem nervös. Um eventuelle Probleme zu umgehen, gab Göschen auf dem Titelblatt einen gefälschten Publikationsort an. Zürich unterstand nicht den Zensurgesetzen des Heiligen Römischen Reichs. So kommt es, dass auf dem Titelblatt der „Zwei Briefe“ Zürich als Publikationsort zu lesen ist, obwohl sie in Leipzig entstanden.
Der Untertan beurteilt die Leistung des Herrschenden
Aber werfen wir einen Blick auf die Geschehnisse in Russland nach dem Tod Katharinas II. Ihr Nachfolger, Paul I., trat mit einer Agenda an. Er hatte während der Herrschaft seiner Mutter rund drei Jahrzehnte lang darauf gewartet, das Werk seines ermordeten Vaters Peters III. fortzusetzen. In seinen Augen hatte ihm die eigene Mutter all diese Jahre lang die Herrschaft vorenthalten, obwohl sie ihm als Erben Peters III. zustand. Und tatsächlich, Katharina, von ihren Schmeichlern gerne als „die Große“ bezeichnet, entmachtete ihren Gatten Peter III. in einem brutalen Staatsstreich. Ob sie auch in seine Ermordung verwickelt war? Paul I. war davon jedenfalls überzeugt. Und nun war die verhasste Mutter tot! Paul I. hatte die absolute Macht. Er wollte sie nutzen, um alles anders zu machen als seine Mutter. Was er anders machte, das schildert Seume in seinen zwei Briefen.
Bemerkenswert ist dabei das Selbstbewusstsein, mit dem Seume sein Urteil über die beiden Herrschenden spricht. Sie sind ihm keine Herrscher von Gottes Gnaden, deren Maßnahmen niemand hinterfragen darf. Im Gegenteil: Er bemisst ihren Wert und Unwert einzig nach der Qualität ihrer Maßnahmen. Seume will weder einen Panegyrikos zum Lobe Katharinas schreiben, noch eine Hetzschrift gegen Paul I. Er will als neutraler Berichterstatter seinem Leser die Fakten an die Hand geben, damit der sich selbst ein eigenes Urteil bilde. Oder – wie Seume am Ende seines Büchleins sagt: „Hier haben Sie meine freimüthigen Gedanken, lieber Freund. Wägen Sie dieselben auf Ihrer eigenen Wage, und untersuchen Selbst, wie viel Wahres oder Unbegründetes darin ist.“
Seine Fakten nimmt Seume aus allen Bereichen des Staatswesens, und man glaube ja nicht, dass er dabei immer die Ideale unserer Zeit teilt. Was er, der aufgeklärte Jurist, zum Beispiel über die Todes- und Körperstrafen schreibt, ist für uns ganz schön starker Tobak: „Bekanntlich waren die Todesstrafen unter der Regierung der Kaiserin Katharina der Zweiten abgeschafft; und Pugatschew, mit einigen seiner Rottenführer ausgenommen, ist niemand hingerichtet worden. An der Knute sterben nur wenige. Diese Gelindigkeit war Menschlichkeit für die Verbrecher, aber ich fürchte sie war Grausamkeit für den Staat. ... Wir haben noch keine Nachricht, ob Paul der Erste die Todesstrafe herstellt, oder ihre Abschaffung bestätiget. Ich habe mich oft nicht enthalten können zu wünschen, daß in jedem Guvernement Rußlands noch ein Galgen stehen möchte, um vorzüglich den großen Verächtern der Gesetze und der Menschlichkeit immer ihren gehörigen Gesichtspunkt zu geben.“
Für Seume sind die aufgeklärten Machthaber die Erzieher ihres unwissenden Volkes. Ihre Gesetze befördern oder verhindern das Staatswohl. Er hält die Staatskunst für eine Frage der Logik: Wer das Vernünftige tut, wird eine Verbesserung erzielen. Um aber das Vernünftige zu tun, muss man über möglichst viele aufgeklärte Meinungen verfügen.
Freimütigkeit ist besser als Schmeichelei
Deshalb ist die Pressefreiheit für ihn existentiell. Wenn es um die Pressefreiheit geht, wird Seumes neutraler Text doch zu einem Panegyrikus auf Katharina, zu einer Hetzschrift gegen Paul. So schreibt er gleich zu Beginn des ersten Briefes: „Schlimm genug ist es, daß man meistens außer den Grenzen eines Reichs seyn muß, um über dieses Reich vernünftig freimüthig sprechen und schreiben zu dürfen, ...“ Und seinen zweiten Brief leitet er ein mit einer Positionsbestimmung: „Sie machen mir den Vorwurf, lieber Freund, daß ich als Tadler auftrete, und die neuen Maaßregeln in Rußland mit etwas Bitterkeit beleuchte. Sie irren Sich gewiß, Bester: Bitterkeit ist durchaus nicht in meinem Charakter. Wenn aber die Wahrheit einen etwas herben Geschmack hat, so liegt das in der Sache: und man mag in der Darstellung noch so sehr überzuckern, die Komposition wird dadurch nur noch widerlicher. Der natürliche Ton ist der beste überall; und Freimütigkeit ist besser als Schmeicheley.“
Damit fasst Seume eine Grundüberzeugung zusammen, für die alle Intellektuellen des 19. Jahrhunderts kämpften, manche sogar starben oder viele Jahre hinter Gefängnismauern verbrachten. Sie alle glaubten fest an die menschliche Vernunft und daran, dass man den Menschen nur die „richtige“ Position glaubhaft erklären müsse, damit alle das „Richtige“ tun würden.
Heute sehen wir das ein bisschen anders.
Der Spaziergang nach Syrakus
Nur die wenigsten von uns kennen Johann Gottfried Seume als den großen Kritiker Russlands. Wer seinen Namen überhaupt noch in Erinnerung hat, verbindet ihn meist mit seinem „Spaziergang nach Syrakus“. Zwischen Dezember 1801 und August 1802 bewältigte er die Strecke von Sachsen nach Syrakus und zurück, immerhin rund 7.000 Kilometer. Seine lebendige Reisebeschreibung ist heute noch lesenswert, aber nicht Thema dieses Beitrags.
Seume starb im Juni 1810 im böhmischen Bad Teplitz, wo er hoffte, eine Nierenerkrankung ausheilen zu können. Seine Bücher und Schriften können heute noch mit Genuss und Gewinn gelesen werden.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Hier finden Sie eine digitalisierte Version von Seumes „Zwey Briefen“.
2018 wurde erstmals ungekürzt Seumes Lebensbeschreibung publiziert. Der Deutschlandfunk widmete ihr eine Buchbesprechung mit einem ausführlichen Einblick in Seumes Leben. Hier lesen Sie den Artikel.
Johann Gottfried Seume hat übrigens eine eigene Website, die Ihnen viele interessante Einblicke jenseits von Wikipedia bietet.
Wenn Sie sich wirklich einmal in die Feinheiten der Zensurvorschriften einlesen wollen: Sie können die wissenschaftliche Monographie von Norbert Bachleitner zur Zensur in Österreich von 1751-1848 einsehen. Aber Achtung! Das Werk ist mehr als 500 Seiten stark.