Was passiert, wenn man einen durch und durch guten Menschen in ein Umfeld setzt, in dem persönliche und gesellschaftliche Konflikte toben? Dieses Gedankenexperiment stellt Fjodor M. Dostojewski (1821-1881) in seinem Roman „Der Idiot“ an. Der Titel verweist auf den Protagonisten, Fürst Myschkin, der wegen seiner Epilepsieerkrankung viele Jahre abgeschieden von der Welt in einem Schweizer Sanatorium gelebt hat. Nach Sankt Petersburg kehrt er zurück mit seinem kindlichen Gemüt, das ihn als weltfremden Sonderling, als „Idioten“ auszeichnet. Dort findet er eine hochkomplizierte Welt vor, die ihm ebenso fremd ist, wie er seinen Mitmenschen.
Kann moralisch gutes Verhalten auch schaden? Zumindest im Fall des Fürsten Myschkin endet seine Geschichte in einer Katastrophe. Der Fürst trifft eine schöne junge Frau, Nastassja Filippowna Baraschkowa, der er helfen möchte. Sie steht zwischen zwei Bewerbern. Fürst Myschkin will alle Beteiligten vor großem Unglück bewahren, indem er selbst um Nastassjas Hand anhält. Doch so einfach funktioniert das Leben nicht, wie jeder von uns in seinem Alltag erfährt. Wofür sollen wir spenden? Bio oder regional kaufen? Sind die neuen Heilsversprechen einer gesunden Lebensführung die ultimative Antwort auf unsere Probleme? Näher an uns normalen Menschen ist Nastassja. Sie ist kein reines, unschuldiges Wesen, sondern in ihren Handlungen geprägt von Komplexen, Sehnsüchten, Unsicherheiten. In einer Dreiecksbeziehung quälen sich Myschkin, sein Rivale Rogoschin und Nastassja gegenseitig. Als Nastassja ihrerseits aus guten Intentionen heraus versucht, Myschkin zu verkuppeln, befördert sie die tragischen Entwicklungen nur. Menschen sind keine Schachfiguren, und die Hauptfiguren des Romans entwickeln Hass, Liebe, Neid in einer verderblichen Dosis: Rogoschin tötet Nastassja, Myschkin steht vor den Trümmern seiner Taten und verliert, ähnlich wie Shakespeares König Lear, darüber den Verstand.
Der kindlich-naive Fürst analysiert die Beweggründe der ihn umgebenden Personen präzise und registriert, wie sie ihn verspotten und zu manipulieren versuchen. Doch vermag er es nicht, sich und seinen Drang zum Guten den Notwendigkeiten anzupassen. Den Roman durchweben philosophische Debatten von zeitloser Schönheit. An einer Stelle ruft Myschkins Gesprächspartner aus, dass auch das Mitleid eine Grenze haben müsse. Myschkin weiß nicht wirklich dagegen zu argumentieren, er bekommt Kopfschmerzen und zieht sich zurück. Das klingt bekannt: Irgendwann können wir keine Flüchtlinge mehr aufnehmen, so der Tenor in Europas aktueller Debatte um die Zuwanderung. Da darf man sich nicht mit Kopfschmerzen wegducken und muss sich fragen: Wie viel Mitleid ist erlaubt? Und wie soll man handeln, damit die Welt nicht in der Katastrophe endet?
Dostojewski schildert eine russische Gesellschaft, die sich im Umbruch befand: Im autoritären Zarentum entwickelten sich Reformvorstellungen und kommunistische Ideen. In dieser Zeit, in jeder Zeit, reicht es nicht, einfach nur gut sein zu wollen. Eine solche Form der Selbstlosigkeit kann kaum erfolgreich sein. Auch wenn man in der Welt moralische Werte verwirklichen möchte, muss man einen gewissen Realitätssinn besitzen.
Dostojewski schrieb dieses Buch 1868, um wieder zu Geld zu kommen. Seine Spielsucht hielt ihn ständig verschuldet, weswegen seine Frau mit ihm aus Russland geflohen war. Die Hoffnung, auf einer Tour durch Europa ihren Mann von den Roulettetischen fernzuhalten, erfüllte sich jedoch nicht. Dostojewski war nicht der gute Fürst Myschkin, er war ein Mensch – einer, der mit unglaublichem Feingefühl für die menschliche Psyche alle ihre Schattierungen auszuleuchten vermochte.