„Der große Gatsby“ zählt heute zu den bekanntesten Romanen moderner amerikanischer Literatur, nicht zuletzt weil er die Faszination und inhärente Widersprüchlichkeit des American Dream einfängt wie kaum ein anderer. F. Scott Fitzgeralds Werk erzählt die Geschichte des „großen“ Gatsby, eines geheimnisvollen, neureichen Gentlemans, berüchtigt für die legendären Parties in seiner palastartigen Villa. Anders als viele Bewohner des reichen New Yorker Vororts ist Gatsby jedoch nicht in die Oberschicht hineingeboren, sondern hat sich seinen Wohlstand, ganz im Sinne des amerikanischen Volksmythos, selbst erarbeitet. Mit seinem spektakulären sozialen Aufstieg verfolgt Gatsby ein ganz besonderes Ziel: die schöne, reiche Daisy Buchanan.
Neben einer tragische Liebesgeschichte erzählt der Roman auch von einer Gesellschaft, die betört ist vom Glanz und Glitzer des modernen, kapitalistischen Reichtums. Die 1920er Jahre sind nicht nur bekannt für kurze Cocktailkleider, volle Champagnergläser und Jazzmusik, die Ära wird auch als „Gilded Age“ – als vergoldetes Zeitalter – bezeichnet; denn es ist nicht alles Gold was glänzt. Gatsbys Wohlstand gründet sich nicht auf harter Arbeit, sondern auf Betrug und Korruption. Daisy, ebenso wie die gesamte Oberschicht, scheint hinter ihrem schönen Äußeren dekadent, moralisch ausgehöhlt und im Verfall begriffen.
Der Abgrund zwischen Schein und Sein in einer solchen Gesellschaft zeigt sich nirgends deutlicher als im Kontrast zwischen Gatsbys gold-glitzernden, verschwenderischen Luxusfesten und der tristen, grauen Realität der Kohlearbeiter im „Tal der Asche“. Hier wird die Widersprüchlichkeit einer zunehmend von Konsumgier getriebenen Gesellschaft offenbar, welche die realen Produktionsverhältnisse nicht sehen will: der Reichtum der einen gründet sich auf der Armut der anderen.
Fast 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans im Jahre 1925 ist die Frage, wie die Wohlstandsverteilung in einer gerechten Gesellschaft aussehen könnte von gleichbleibender Aktualität, wenngleich sie mit der Globalisierung der Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten eine neue Bezugsgröße geschaffen hat. Aber weder klagt „Der große Gatsby“ mit erhobenem Zeigefinger an, noch will er moralisieren. Die große Stärke des Romans ist es vielmehr, dass er den Leser in seinen Bann zieht, die Verlockung des Geldes und die Faszination des maßlosen Reichtums greifbar macht. Denn wir erleben die fiktiven Geschehnisse aus der Perspektive eines jungen Mannes, Nick Carraway, der sein Glück an der New Yorker Börse versuchen will. Und ebenso wie Nick vom schnellen Geld des Finanzmarktes angelockt und von Gatsby verführt wird, werden wir es.
Lesenswert ist „Der große Gatsby“, der selbst schwere Themen charmant und mit Leichtigkeit erzählt und sich darum auch gut als Urlaubslektüre eignet, unbedingt. Fitzgeralds Roman ist inzwischen fester Bestandteil des Kanons amerikanischer Klassiker und hat es sogar auf die Liste der 100 besten englischsprachigen Romane des 20. Jahrhunderts geschafft. Zu Recht.