Im September 1909 kamen zwei Forscher von mehrjährigen Arktis-Expeditionen zurück. Beide behaupteten, als erster Mensch den Nordpol erreicht zu haben. Der eine war Robert Peary. Wir haben ihn und eines seiner Bücher in unserem letzten Artikel vorgestellt. Der andere war Frederick Cook (1865-1940), eigentlich ein Mediziner und wie Peary Amerikaner. Die beiden kannten sich gut, denn Cook hatte seine Abenteurer-Laufbahn als Arzt auf einer von Pearys früheren Expeditionen angefangen. Nun waren sie erbitterte Konkurrenten.
Peary telegrafierte in die Heimat, den Nordpol am 6. April 1909 erreicht zu haben, Cook verkündete, bereits am 21. April 1908 dort gewesen zu sein. Das lange Zeit erfolglose Unterfangen der Nordpoleroberung sollte nun also gleich zwei Männern gelungen sein? Ein heftiger Streit brach darüber aus, wer der beiden Männer nun wirklich der erste Mensch am Nordpol gewesen sei. Während Cook nicht leugnete, dass Pearys Expedition ebenfalls den Pol erreicht habe – aber natürlich eben erst nach seiner eigenen –, griff Peary Cooks Polerreichung vehement an. Nur so konnte er für sich beanspruchen, der „erste Mensch am Nordpol“ zu sein.
Beide begannen schnell damit, Fürsprecher ihres Anspruchs zu suchen. Cook konnte sich vor allem die Unterstützung anderer Polarforscher sichern, u.a. von Roald Amundsen, Bezwinger der Nordwestpassage und wenige Jahre später erster Mensch am Südpol. Das mag nach guter Rückendeckung klingen, doch die Verbündeten seines Konkurrenten waren weitaus besser: Der in der New Yorker Elite exzellent vernetzte Robert Peary hatte die Presse und die National Geographic Society auf seiner Seite. Und er setzte alles daran, Cook zu diskreditieren, um seinen eigenen Anspruch durchzusetzen. Warum? Wie im letzten Artikel ausgeführt, ging es dabei um den Ruhm, aber auch um die damit einhergehenden finanziellen Möglichkeiten. Eine Karikatur der Zeitschrift Puck von 1909 zeigt Cook und Peary mit dem zwischen ihnen umkämpften Nordpol, der hier als Person dargestellt wird. Der Nordpol hält nicht zufällig zwei Geldsäcke in die Höhe, auf denen „Book Royalties“ und „Lecture Receipts“ steht – Buchhonorare und Vortragsquittungen.
Artikeltext:
Fake Peak
Pearys Diskreditierungsversuche gegen Cook waren sehr erfolgreich. Sein großer Coup: Er konnte enthüllen, dass Cook bei einer vergangenen Expedition ein fataler Irrtum unterlaufen war. Cook hatte sich nur wenige Jahre zuvor ein anderes begehrtes „First“ gesichert: Er hatte 1906 als erster Mensch den Mount McKinley (heutiger Name: Denali), erklommen, den höchsten Berg Nordamerikas – und natürlich auch darüber ein Buch veröffentlicht. Bei der Suche nach Möglichkeiten, Cooks Glaubhaftigkeit zu zerstören, nahm man sich seine Vergangenheit genau vor – eine Strategie, die sich in den letzten 110 Jahren wenig geändert hat. Bei einer Untersuchung des Berichts zur Erstbesteigung stellte sich heraus, dass Cook keineswegs den Gipfel erreicht hatte, sondern nur einen kleinen Nebengipfel, der deshalb übrigens bis heute den Namen „Fake Peak“ trägt. Wenn es ein Betrugsversuch war, dann ein schlechter, denn die falsche Aufstiegsroute war genau dokumentiert. Diese Enthüllung war für Cooks Reputation fatal.
My Attainment of the Pole
Schauen wir uns mit diesem Wissen im Hinterkopf nun Frederick Cooks Buch zu seiner Expedition zum Nordpol an. In unserer Bibliothek haben wir eine englische Erstausgabe von Cooks 1911 veröffentlichten „My Attainment of the Pole“ (dt.: Mein Erreichen des Pols). Auf den ersten Blick ähnelt es dem in der letzten Ausgabe vorgestellten Buch Pearys. Es geht auf knapp 600 Seiten um Routen, Tagesstrecken und allerlei auf dem Weg Erlebtes. Das Buch wird mit zahlreichen Expeditionsfotos illustriert. Cook liefert zudem seine wichtigen Messdaten zur Positionsbestimmung am Pol. Er steuert auch dazugehörige Skizzen bei, um Laien zu verdeutlichen, wie über den Verlauf der Sonne und die Position des Schattens die Position am Nordpol bestimmen kann.
Das alles macht nur einen Teil seines Buches aus. Gut 100 Seiten widmet Cook Rechtfertigungen, Verteidigungen und Gegenangriffen gegen Peary. Das verdeutlicht dem heutigen Leser klar die Ausmaße dieses Streits. Cook lässt sich lang darüber aus, wie Peary über ihn und andere Forscher herzieht. Er beklagt die seiner Meinung nach von Peary gelenkten Angriffe der Presse und die schmutzigen Tricks, derer sich seine Gegner bedienen, um ihn zu diskreditieren. Peary würde bestechen und lügen, wo er nur könne. Ein ganzes Kapitel ist der Verteidigung der Mount McKinley-Besteigung gewidmet. In einem anderen greift Cook die National Geographic Society an, die sich für Peary ausgesprochen hat. Das Kapitel trägt den vielsagenden Titel: „Wie eine geografische Gesellschaft ihren Namen prostituierte“ …
Die Meinung der Fachwelt
Gleichzeitig betont Cook, dass die meisten anderen Polarforscher sich für seinen Anspruch ausgesprochen hätten. Gleich zweimal – als Nachtrag und als separate Beilage, lesen wir einen kurzen Report des Polarforschers Evelyn Briggs Baldwin. Er kommt, wenig überraschend, zu folgendem Schluss: „Der Nordpol wurde von Dr. Cook wahrhaftig erreicht, und zwar 350 Tage bevor irgendjemand anderes den Anspruch erhob, dort gewesen zu sein.“
Cook selbst beendet seine „Verteidigungsschrift“ schließlich mit den folgenden Sätzen:
„Mein Fall stützt sich nicht auf eine Gruppe von Schreibtischtätern oder Möchtegerngeographen, sondern auf Arktisreisende, die über den Nebel egoistischer Interessen hinwegsehen können […] In diesem Buch habe ich meinen Fall dargelegt und meine Beweise vorgelegt. Was die jeweiligen Argumente für meine Behauptung und die von Herrn Peary angeht, so legen Sie die beiden Berichte nebeneinander. Vergleichen Sie sie. Ich werde mit Ihrer Entscheidung zufrieden sein.“
Die Meinung der Öffentlichkeit
Genützt hat das alles anscheinend nicht. Peary ging als Sieger aus der Debatte hervor. Der Mount-McKinley-Fall hatte Cook so stark diskreditiert, dass bald in der Öffentlichkeit die Meinung vorherrschte, Cook sei ein Betrüger und folglich Peary der erste Mensch am Nordpol gewesen. Cook kämpfte zeitlebens um Rehabilitierung – erfolglos. Eine Kongressuntersuchung wurde anberaumt, aber wegen des Ausbruchs des 1. Weltkrieges gestrichen. Für die Zeitgenossen war die entscheidende Frage eigentlich die, welches Land die „Eroberung des Nordpols“ für sich beanspruchen konnte. Da Peary und Cook beide aus den USA stammten, begnügte man sich damit, dass auf jeden Fall ein Amerikaner der erste Mensch am Nordpol gewesen sei. Die meisten meinten, es sei Peary gewesen. Und so stand es auch bis zum Ende des 20. Jahrhundert in den Schulbüchern.
Die große Frage zum Schluss: Wer war nun der erste Mensch am Nordpol?
Seit den späten 1980ern wurden die Berichte der Polarexpeditionen von der modernen Forschung grundlegend überprüft. Das Ergebnis: Es gilt heute als recht sicher, dass Peary den Nordpol nicht erreicht hat – genauso wenig wie Cook. Beide Berichte weisen gravierende Ungereimtheiten, Messfehler und Lücken auf. Keiner von beiden hatte einen Zeugen bei sich, der qualifiziert gewesen wäre, die Messungen zu bestätigen. Peary hätte laut seinem Expeditionslogbuch auf den letzten Meilen völlig unmögliche Tagesstrecken zurücklegen müssen, etwa das Doppelte von dem, was er und andere normalerweise unter arktischen Bedingungen schafften.
Wenn weder Peary noch Cook am Nordpol waren, wer war dann der erste Mensch am Nordpol? Das kommt darauf an, was man gelten lässt. Gilt es, den Nordpol nur überflogen zu haben? Gilt es, mit einem Flugzeug dort zu landen? Gilt ein Erreichen mit Schneemobil, oder nur mit dem traditionellen Hundeschlitten? Je nachdem würde die Antwort anders lauten. Den einen ersten Menschen am Nordpol für die Geschichtsbücher gibt es einfach nicht. Vielleicht ist das auch gut so, stellt so ein Name doch die Leistung der unzähligen Forscher davor zu Unrecht in den Schatten, die einen solchen Erfolg erst möglich gemacht haben.
Übrigens: Selbst wenn Pearys Expedition doch den Nordpol erreicht hätte, wäre Peary nicht der erste Mensch am Nordpol gewesen. Diese Ehre würde dann seinem Begleiter Matthew Henson zukommen, der als Erkunder der eigentlichen Expedition vorausging. Freilich zählte das in den damaligen Debatten nicht wirklich, denn schließlich war Henson Afroamerikaner. Genau aus diesem Grund hatte ihn Peary bei sich behalten und ihn nicht wie sämtliche weiße Expeditionsmitglieder kurz vor dem Ziel zurückgeschickt, um sicherzustellen, dass er der erste Weiße am Nordpol sein würde. Von den ebenfalls der Expedition angehörenden Inuit müssen wir gar nicht erst anfangen. Und damit haben wir wohl für heute genug Helden dekonstruiert.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Hier finden Sie den ersten Teil des Artikels über Robert Peary.
Gekauft haben wir die beiden Bücher im Münchner Antiquariat von Thomas Rezek.
Hier können Sie das ganze Buch digital durchblättern.
Mehr über Matthew Henson erfahren Sie in diesem kurzen Video von National Geographic (ja, genau, die gehören zur National Geographic Society, die sich für Peary ausgesprochen hat.)