Schon immer waren die Menschen von großen Entdeckern fasziniert – von jenen, die dahin gelangten, wo noch nie ein Mensch vor ihnen war. Ihnen war stets ein Platz in den Geschichtsbüchern sicher. Der erste Mensch auf dem Mond? Klar, das war Neil Armstrong. Die ersten Menschen auf dem Mount Everest? Edmund Hillary und Tenzing Norgay. Die ersten Menschen am Südpol, auch das ist bekannt, war die Expedition unter der Leitung von Roald Amundsen. Und der erste Mensch am Nordpol? Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten wie die vorherigen. Zwei Männer behaupteten fast zeitgleich, dass ihnen diese Ehre zustehe – und stritten sich erbittert darum. In diesem und dem kommenden Artikel möchten wir Ihnen Bücher dieser zwei Prätendenten auf den Titel „erster Mensch am Nordpol“ vorstellen. Aber zunächst klären wir eine Frage: was ist eigentlich so interessant am Nordpol?
Artikeltext:
Der Wettlauf um den Nordpol
Was ist am geografischen Nordpol? Eigentlich überhaupt nichts. Es ist ein Punkt in einem trostlosen Meer aus Eis– man kann nicht einmal erkennen, dass man da ist, ohne zuerst Messungen durchzuführen. Und doch: Immer wieder wagten sich Expeditionen in das Polargebiet, um ihn zu erreichen – diesen magischen nördlichsten Punkt der Welt auf dem 90. Breitengrad, von dem aus man nur nach Süden laufen kann.
Natürlich ging es dabei um wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, aber auch mindestens genau so sehr um den damit verbundenen Ruhm. Die Frage war zudem nicht nur, wer der erste Mensch am Nordpol sein würde, sondern vielmehr, welche Nationalität er haben und wessen Flagge er am Pol hissen würde. Solche Angelegenheiten waren ab dem 19. Jahrhundert eine klare Sache des nationalen Prestiges. Im Zeitalter der um die letzten weißen Flecken auf dem Globus wetteifernden Imperien wurde ihnen große Wichtigkeit beigemessen. Alle Großmächte unterstützten daher Abenteurer und Forscher ihrer Nationalität bei der teuren Ausrüstung von Arktisexpeditionen, auch das Deutsche Reich, Italien und Österreich. Und die Weltöffentlichkeit schaute diesem Rennen gespannt zu.
Den Nordpol selbst zu erreichen war dabei zunächst ein Ziel in weiter Ferne. Die eisigen Temperaturen und der Mangel an allem, was Leben ermöglicht, forderte das Leben vieler, die sich in das ewige Eis vorwagten. Zunächst bestand der Wettbewerb daraus, einen nördlicheren Punkt zu erreichen als je jemand zuvor. Mit jeder dieser Expeditionen wurde das Wissen über das Polargebiet größer und das große Ziel kam Stück für Stück näher.
Dem Nordpol am nächsten
Von der Faszination für diese immer neuen Vorstößen Richtung Pol zeugt unser Buch, „Dem Nordpol am nächsten“ (Originaltitel: Nearest the Pole) von 1907. Es wurde von Robert Peary (1856-1920) geschrieben. Peary war eigentlich Marineoffizier und ein alter Hase unter den Abenteuern, der zuvor schon mehrere Rekorde für die Erreichung eines nördlichsten Punktes aufgestellt hatte. Er war in der New Yorker Elite extrem gut vernetzt und nutzte das zu seinem Vorteil. Sein Peary Arctic Club sammelte für ihn Gelder, um damit Expeditionen zu finanzierten, und das sehr erfolgreich. Die meisten dieser Mittel flossen in den Bau eines eigenen, auf Pearys Bedürfnisse zugeschnittenen Expeditionsschiffes, der SS Roosevelt. Mit ihr brach Peary zu der in diesem Buch behandelten Expedition in den Jahren 1905 und 1906 auf. Sein Ziel war nicht der Nordpol, sondern ein weiterer „Nord-Rekord“, den er auf dieser Expedition tatsächlich aufstellte. Er und seine Leute erreichten 87°6′ (Sprich: 87 Grad 6 Minuten) nördlicher Breite.
Bei dem Buch handelt es sich um einen typischen, recht schnörkellosen Expeditionsbericht, der die Reise und die Erlebnisse auf der Strecke dokumentiert. Peary selbst gibt im knappen Vorwort zu, dass die Vorbereitung einer neuen Expedition ihn davon abgehalten haben, dass Buch so fertig zu stellen, dass es seinen eigenen und den Erwartungen der Verleger genügt hätte. Dennoch macht das Buch etwas her. Dem Bericht sind 96 Abbildungen nach Expeditionsfotografien beigefügt, die dem Leser eisige Landschaften zeigen und die Mitglieder der Expedition als kühne Abenteurer in Szene setzen. Wie unsere deutsche Ausgabe beweist war das Interesse auch an einer weiteren Annäherung an den Nordpol international groß genug, damit Verleger in eine übersetze Ausgabe investierten.
Das liebe Geld
Solche Bücher waren für ihre Autoren extrem wichtig, denn als Abenteurer lebten Männer wie Peary von ihrem großen Image und finanzierten ihre Unternehmungen über Spenden, Buchverkäufe und andere Vermarktungen ihres Namens. Ein schönes Beispiel dafür: Peary berichtet in diesem Buch, eine bisher unbekannte Landmasse entdeckt zu haben, die er Crocker Land getauft habe – nach seinem Hauptsponsor, dem Banker George Crocker. Spätere Expeditionen in die Region und ein Abgleich mit Pearys Logbuch ergaben, dass er sich diese Landsichtung nur ausgedacht hatte – wahrscheinlich, damit Crocker glaubte, etwas für sein Geld zu bekommen und Peary auch weiterhin unterstützen würde. Denn Peary hatte Großes vor.
Das große Ziel – erreicht?
Kaum war Peary von der in diesem Buch behandelten Expedition zurück, bereitete er die nächste vor. Mit ihr wollte er das große Ziel endlich erreichen – den Nordpol selbst. Nur ein Jahr nach der Veröffentlichung dieses Buches brach er zu seiner nächsten Expedition auf. Und tatsächlich konnte er nach seiner Rückkehr verkünden, am 6. April 1909 den Nordpol erreicht zu haben. Allerdings musste er noch auf der Rückfahrt erfahren, dass ein anderer Abenteurer ebenfalls den Nordpol erreicht haben wollte, und das sogar ein ganzes Jahr vor ihm, im April 1908. Wer dieser Konkurrent war und wer nun den Nordpol als erstes erreicht hat, klären wir in unserer nächsten Ausgabe – Fortsetzung folgt!
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Pearys „Dem Nordpol am nächsten“ gibt es bei Projekt Gutenberg vollständig online.
Über die Faszination fremder Kulturen und unerreichter Orte ging es auch in unserer Ausstellung Wir und das Fremde: Wie wir die Welt kennenlernten.