Das gesamte Wissen unserer Zeit zwischen zwei Buchdeckeln? In Zeiten von Wikipedia undenkbar. Schon im Altertum war dieses Unterfangen ambitioniert, aber als Spinner wurde Gaius Plinius Secundus keineswegs belächelt. Und dabei lieferte er ein ebensolches Werk ab: die „Naturalis historia“, die „Naturkunde“. Eine Lyoner Ausgabe des lateinischen Textes von 1548 präsentiert sie als „Historiae Mundi“, also „Weltgeschichte“. Man mag es den Herausgebern nicht verübeln. Schließlich beschränkt sich dieses Monumentalwerk keineswegs auf die Naturwissenschaften. Dafür war sein Autor viel zu neugierig. Ihm ging es um das Verhältnis von Natur und Mensch, um das große Ganze. Er lieferte einen Ein-Mann-Brockhaus, der für eineinhalb Jahrtausende die Referenz für Wissensfragen blieb.
Artikeltext:
Eine „Geschichte der Natur“? Mitnichten!
In sechsunddreißig Büchern präsentiert Plinius das Wissen seiner Zeit, der Zeit um 50 n. Chr. Vorangestellt ist ein einleitendes Buch, das es in sich hat. Es enthält nicht nur die übliche Vorrede, sondern auch ein detailliertes Inhaltsverzeichnis und ein Quellenverzeichnis. In letzterem führt der Autor die Werke auf, die er für seine Recherchen benutzt hat. Was uns heute in einem Zeitalter der Fußnoten (und nach der Guttenberg-Plagiatsaffäre) selbstverständlich erscheint, war für die römische Antike absolut exzeptionell. Seine Lektüre scheint mehrere Menschenleben auszufüllen: Plinius zitiert über 400 Autoren und die Stichwortliste des Inhaltsverzeichnisses umfasst rund 40.000 Einträge! Wenn Plinius also von natura spricht, meint er die natürliche Umwelt des Menschen, kurz: die gesamte Welt.
Blicken wir in das Inhaltsverzeichnis, springen uns Themen an wie Kosmologie, Zoologie, Botanik, Medizin, Pharmakologie, Metallurgie und Geographie. Doch damit das Werk nicht zum staubigen Lehrbuch gerät, unterhält Plinius seine Leser mit geschickt eingebauten Anekdoten, die dem trockenen Stoff Leben einhauchen – auch wenn wir so mancher Fabelerzählung heute jeglichen historischen Gehalt absprechen werden. Wie buntscheckig diese Stichworte sind, zeigt ein Blick auf die Einträge zum Thema „Animalia“, also Tiere:
- die Geschicklichkeit der Tiere
- Wundersames bei Tieren
- Vorzeichen durch Tiere
- Fortpflanzungsarten verschiedener Tiere
- Tiere, die ihren Nachwuchs blind gebären und so weiter und so fort
Doch neben den naturkundlichen Themen im strengen Sinn handelt Plinius auch ganz Praktisches ab: Gartenbau, Gifte und Heilmittel. Sogar die bildende Kunst hat es in sein Lexikon geschafft. Schließlich setzt Plinius alles in einen Zusammenhang. Wenn man erfährt, aus welchen Stoffen Farben gewonnen werden oder wo bestimmte Steine zu finden sind, zitiert der Autor auch gleich bedeutende Kunstwerke, bei denen diese Materialien eingesetzt wurden. Hätte Plinius schon verlinken können, er hätte Wikipedia alleine aus dem Boden gestampft!
Plinius der Ältere: Schriftsteller, Politiker, Militär
Was war der Autor dieser Naturkunde für ein Mensch? Heute würden wir ihn als Workaholic mit unstillbarem Wissensdurst bezeichnen. Plinius wurde 23 oder 24 n. Chr. im norditalischen Como als Sohn eines Ritters geboren, also eines niederen Aristokraten. Er durchlief ganz standesgemäß eine Karriere als Offizier und Verwaltungsbeamter. Obwohl er diese Tätigkeiten sehr pflichtbewusst ausführte, widmete er alle verbleibenden Tag- und Nachtstunden seinen Studien. Wie damals üblich las Plinius natürlich nicht selbst, dafür gab es im Vorlesen geschulte Sklaven. Und die wurden ständig eingesetzt: beim Essen, auf der Reise in der Sänfte, ja sogar wenn er sich nach dem Bad abtrocknete. Und unablässig machte Plinius sich Notizen. Daneben diktierte er einem Stenographen seine eigenen Bemerkungen.
Obwohl die „Naturalis historia“ als einziges Werk des Plinius überliefert ist, verfasste er dazu noch jede Menge andere Bücher: Über die Kunst des Speerwurfs, Biografien, historische Traktate und eine Sprachkritik …
Seine letzte Funktion war das Kommando über die römische Flotte in Misenum, im Golf von Neapel. Im Jahr 79 n. Chr. wurde der aufmerksame Beobachter Augenzeuge des Vesuvausbruchs, bei dem kurz darauf die Städte Pompeji und Herculaneum zerstört werden sollten. Zunächst jedoch war den Menschen die Gefahr gar nicht bewusst. Neugierig wollte auch Plinius das Naturphänomen aus der Nähe betrachten und beschreiben. Als er erkannte, dass die Menschen vor Ort in Lebensgefahr schwebten, brach Plinius mit Kriegsschiffen auf, um die Bewohner des Golfs zu evakuieren. Doch ungünstige Winde hielten ihn dort zurück und er starb am Strand inmitten des Infernos.
Ein Werk so bunt wie das Leben
Das Hauptwerk des Plinius, seine große Enzyklopädie, wurde von Beginn an so rege rezipiert, dass sie in ihrem ganzen Umfang bis heute erhalten ist. Wenn man bedenkt, wie viele kleine Schriften nur lückenhaft auf uns gekommen sind, kann man darüber nur staunen! Doch die Menschen waren an ihrem praktischen Nutzen interessiert. Im Mittelalter galt die „Naturkunde“ für viele Wissensgebiete als die Autorität schlechthin. Wer wissen wollte, wie Krankheiten zu heilen waren oder was beim Bergbau zu beachten war, der schaute in seinen Plinius. Schließlich fanden sich Stichworte zu so ziemlich allem darin. Oder wie sein Neffe es formulierte: Das Werk ist „nicht weniger abwechslungsreich als die Natur selbst“.
Rezeption in der Neuzeit
1469 erschien der lateinische Erstdruck in Venedig. In dieser Zeit setzten sich die Renaissance-Gelehrten bereits textkritisch mit der „Naturalis historia“ auseinander. 1543 erschien die erste deutsche Übersetzung in Straßburg. Etwa in diese Zeit fällt auch unsere lateinische Ausgabe, die äußerlich so bescheiden in einem schlichten weißen Ledereinband daherkommt. Besorgt wurde sie von zwei deutschen Druckern, die sich in einer der Druckermetropolen ihrer Zeit niedergelassen hatten, im französischen Lyon. Die Brüder Gottfried und Marcellinus Bering legten in einem Band die komplette „Naturkunde“ vor.
Dazu erhält der Leser textkritische Anmerkungen des Sigismund Gelenius, die im Lateinischen „castigationes“ heißen, also „Tadel“, was sich wenig schmeichlerisch auf die angeblich unpräziseren früheren Ausgaben bezieht. Darin erläutert der Philologe also, warum die Lesart einer bestimmte Handschrift an einer Stelle richtig ist, während eine abweichende andere den Text falsch überliefert. Dieser Gelenius war einer der bedeutendsten böhmischen Gelehrten seiner Zeit. Er wirkte damals in Basel als Lektor bei der Druckerei Froben. Dort war schon 1539 eine Ausgabe des Plinius erschienen, für die Gelenius einen seiner Freunde gewinnen konnte, ein Vorwort zu verfassen: Erasmus von Rotterdam.
Gewidmet war die Ausgabe einem Landsmann des Gelenius, nämlich dem Bischof von Olmütz, Stanislaus Thurzo. Dieser war ein großer Förderer der Humanisten und dürfte die Widmung zu schätzen gewusst haben. Thurzo starb im folgenden Jahr, 1540. Doch auch unsere Ausgabe von 1548 druckt die Vorrede des Erasmus, die Widmung und die Anmerkungen des Gelenius erneut ab.
Mittlerweile befinden wir uns in einer Übergangszeit. Die frühneuzeitliche Forschung begann sich von den antiken Quellen zu lösen und über sie hinauszugehen. Plinius’ „Naturkunde“ wurde vom respektierten Nachschlagewerk zu einem philologischen Forschungsgegenstand, zu einer historischen Quelle. Doch die Bewunderung blieb. Schließlich hatte Plinius geschafft, wofür in der Neuzeit Diderot einen ganzen Stab von Wissenschaftlern benötigte: das Wissen einer Epoche zwischen zwei Buchdeckel zu kondensieren.
Diesen Druck von 1548 finden Sie leider nicht im Internet. Doch die Uni Düsseldorf bietet die Froben-Ausgabe von 1539 im Digitalisat.
Über die deutschen Buchdrucker in Lyon informiert die Deutsche Biographie unter dem Stichwort des Buchdruckers Wilhelm König.
Hier finden Sie (fast) den kompletten lateinischen Text der „Naturalis historia“ und hier verschiedene historische Ausgaben der einzelnen Bücher.