Der beseelte Automat: Descartes Abhandlung vom Menschen
Haben auch Sie Probleme mit Halbgöttern in Weiß, die im Krankenhaus vergessen, dass sie es mit Menschen, nicht mit Körpern zu tun haben? Seien wir froh, dass wir sie haben. Ihre Kenntnisse retten viele Menschenleben. Vor dem 17. Jahrhundert konnten Ärzte nämlich nur vermuten, ob und warum ein Mittel im Krankheitsfall half. Dass sich das änderte, verdanken wir auch Descartes Abhandlung vom Menschen, die wir Ihnen in diesem Beitrag vorstellen.
Artikeltext:
Wer heute von den großen Philosophen der Vergangenheit hört, denkt oft an weltfremde Theorien über Recht und Unrecht, Gut und Böse, Gott und die Welt. Dass ihre Theorien konkrete Auswirkungen auf unseren Alltag gehabt haben, wird uns dabei selten bewusst.
Wir möchten Ihnen in diesem Beitrag ein Beispiel für so eine praktische Auswirkung zeigen: Ein Buch von René Descartes veränderte die Haltung der gebildeten Ärzte zur Medizin nachhaltig. Wann immer Sie heute eine Tablette einnehmen oder sich einer Operation unterziehen, stehen Sie deshalb ein kleines Bisschen in der Schuld von René Descartes. Sein Denkansatz im viel diskutierten Traktat über den Menschen hat Generationen von Ärzten beflügelt, nach den Ursachen von Krankheiten zu suchen und konkrete Heilmethoden zu entwickeln.
Das MoneyMuseum besitzt eine Ausgabe dieses Traktats. Sie entstand 1686 in Amsterdam im Verlag der Familie Blaeu und trägt den Titel Tractatus de Homine, et de Formatione Foetus (= Traktat über den Menschen und die Bildung des Foetus).
Theorie und Praxis der Medizin vor Descartes
Um die Bedeutung von Descartes für die moderne Medizin einzuschätzen, müssen wir uns erst einmal damit beschäftigen, wie Kranke an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert behandelt wurden. Grundsätzlich hatte sich das ärztliche Vorgehen seit der Antike nicht wesentlich verändert. Was bei Wunden und Knochenbrüchen zu tun war, wusste man. Allerdings war dafür nicht der Arzt, sondern der Bader zuständig, der sein Handwerk nicht an der Universität, sondern in der Praxis erlernt hatte.
Der studierte Arzt beschäftigte sich ausschließlich mit inneren Krankheiten, bei denen er allerdings nicht allzu viel tun konnte. Natürlich gab es Methoden, um Symptome zu lindern. Das Problem dabei war, dass sich der Arzt allein auf seine Erfahrung verlassen musste. Warum eine Methode dem einen half und dem anderen nicht, das entzog sich seiner Kenntnis.
Ihr Unwissen verbargen die Doctores hinter gelehrten Theorien. Die einen fabulierten von der Konstellation der Sterne, andere vom Ungleichgewicht der vier Säfte, wieder andere sprachen von der Verbindung zwischen Ernährung und Temperament.
Am weitesten verbreitet war zur Zeit von Descartes die Vorstellung, die Krankheit sei eine Art schädlicher Substanz, die sich frei im Inneren des Körpers bewege. Sie wähle selbst den Ort ihres Wirkens, könne also genauso gut in der Nase einen Schnupfen hervorrufen wie in den Beinen die Gicht oder in der Backe das Zahnweh. Das deutsche Wort Rheuma – vom Griechischen rhéin für fließen oder strömen – erinnert an diese Vorstellung. Ziel jedes Arztes musste es also sein, die kranke Substanz aus dem Körper zu entfernen; deshalb die vielen Aderlässe, Schwitzkuren und Abführmittel, über die wir heute nur noch den Kopf schütteln.
Die Entdeckung des Blutkreislaufs
Nun waren die Menschen im 17. Jahrhundert natürlich nicht dümmer als wir heute. Auch damals gab es Ärzte, die nach dem Warum fragten. Zu gerne hätten sie in die Körper ihrer Patienten hineingesehen, aber das war schwierig. Bildgebende Verfahren gab es noch nicht und Obduktionen waren alles andere als alltäglich. Auch wenn sie keinem kirchlichen Verbot unterlagen, standen ihnen die Menschen kritisch gegenüber. Nicht der Sache an sich, solange sie an Fremden vorgenommen wurde. Aber keine Familie, die auf sich hielt, ließ es zu, dass der Leichnam ihres lieben Verstorbenen für eine Obduktion missbraucht wurde. Deshalb beschränkte sich der Nachschub an Körpern auf die Leichen von Hingerichteten, die alle Rechte an Leib und Leben verwirkt hatten. Und das bedeutete, dass nur sehr selten obduziert werden konnte.
Selten heißt aber nicht nie. Zu jeder Sektion strömten Interessierte zusammen und beobachteten genau, was da unter der menschlichen Haut zu sehen war. Das Lehrbuch von Andreas Vesalius über den menschlichen Körper entwickelte sich geradezu zu einem Bestseller. Und 1628 publizierte William Harvey ein weiteres Buch, das Furore machte. In De motu cordis schilderte er den menschlichen Blutkreislauf und seine Pumpe, das Herz. Damit stellte Harvey die Thesen des antiken Arztes Galen in Frage – damals „die“ medizinische Autorität schlechthin. Ob man eher den Autoritäten glauben sollte oder den Erkenntnissen aus Obduktionen, das wurde bald in ganz Europa diskutiert.
Auch Descartes interessierte sich für Anatomie. Schließlich beschäftigten sich Philosophen damals nicht nur mit ethischen Fragen, sondern auch mit den Naturwissenschaften und der Mathematik. Wir wissen, dass Descartes häufig beim Schlachten zusah, selbst seziert hatte und gerne die Versuche anderer Ärzte beobachtete. Wir wissen auch, dass er das Buch von Harvey über den Blutkreislauf las, und zwar im Jahr 1633. Er brachte Harveys Erkenntnisse mit einigen Ideen in Verbindung, die er wahrscheinlich schon länger mit sich herumtrug.
Die Verbindung zwischen Automat und Blutkreislauf
Und damit sind wir wieder bei Descartes Vorstellungen vom menschlichen Körper. Um die Ursprünge seiner Theorie zu finden, müssen wir noch weiter in der Zeit zurückreisen, und zwar in die Jahre kurz nach der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Descartes war damals noch ein junger Mann und weilte zur Ausbildung in Paris.
Nun wurden 1603 nahe Paris die künstlichen Grotten des Schlosses Saint Germain-en-Laye fertiggestellt. Sie galten als einzigartige Sehenswürdigkeit, die sich auch der neugierige René Descartes ansah. Leider haben sich diese Grotten nicht erhalten, aber wir können durchaus eine Vorstellung davon gewinnen, was Descartes sah. Denn bei Schloss Hellbrunn nahe Salzburg hat sich ein ähnlicher Lustgarten erhalten, in dem einige Automaten noch funktionieren.
Denn genau das war die große Sensation von Saint Germain-en-Laye: In den künstlichen Grotten des französischen Königsschlosses bewegten sich menschengroße Statuen scheinbar von selbst und gaben Töne von sich. Sprachen einige grenzenlos erstaunte Besucher von einem Wunder, interessierten sich Ingenieure wie Descartes für die Technik, und da gab es viel zu lernen. Die Automaten waren ein Meisterwerk damaliger Ingenieurskunst, bei dem Wasser die Energie lieferte, um sie in Bewegung zu setzen.
Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, welch tiefen Eindruck diese Automaten machten. Sie durchstießen die Grenze zwischen belebt und unbelebt, suggerierten, dass es diese Grenze vielleicht gar nicht gäbe. So dürfte Descartes auf die Idee gekommen sein, dass auch der menschliche – und der tierische – Körper eine Art Automat sein könnte. Natürlich war der menschliche Körper wesentlich komplexer als alles, was in Saint-Germain-en-Laye zu sehen war. Aber das ließ sich leicht erklären: Schließlich war sein Urheber nicht irgendein Ingenieur, sondern Gott.
Descartes dürfte über diese Idee viele Jahre lang gebrütet haben, ehe er das Werk von Harvey zum Blutkreislauf las. Es schien ihm wie ein letzter Beweis dafür, dass auch der menschliche Körper nur eine Maschine sei, die eben nicht mit Wasser, sondern mit Blut betrieben wurde.
Seele + Körper = Mensch
Und genau darum geht es in Descartes Traktat über den Menschen: Er beschreibt den menschlichen Körper als eine Art Maschine, die mit Hilfe des Blutkreislaufs in Bewegung gesetzt wird. Das Herz dient als Pumpe. Dort brennt ein lichtloses Feuer, das den menschlichen Körper erwärmt und das Blut in Bewegung setzt. Wie Wasser Mühlen und Automaten treibt, so setzt der Blutstrom alle menschlichen Organe in Bewegung. Einen Beweis, dass auch der Mensch ein Automat ist, sieht Descartes in all den körperlichen Vorgängen, die der Wille nicht beeinflussen kann. Atmen, Blinzeln, Verdauen oder das Schlagen des Herzens: all dies geschieht automatisch, ganz wie bei den mit Wasser getriebenen Maschinen.
Und damit sind wir bei dem Menschenbild angelangt, das Descartes in seinen Meditationes vertritt. Dort behandelt er den Körper als eine Maschine, die völlig von der Seele getrennt ist. Wir erinnern uns, dass Descartes die ganze Welt in drei Bereiche einteilt:
- in die unendliche Substanz namens Gott
- in die endliche, denkende Substanz, den menschlichen Geist
- und in die endliche, nicht denkende Substanz, die Materie
So wie die Seele als res cogitans mit dem Göttlichen verbunden und unsterblich ist, so gehört der menschliche Körper, die res extensa der materiellen Welt an und ist wie der Automat unbelebt und Maschine.
Was ist die Konsequenz, wenn der Körper eine Maschine ist?
Uns mag die Idee, dass der Körper eine Maschine ist, gar nicht so spektakulär erscheinen wie den Zeitgenossen von Descartes. Wer Herzen und Hüftgelenke ersetzt, hat längst die Konsequenz aus Descartes’ Weltbilds gezogen.
Denn die Ärzte der kommenden Generationen fühlten sich durch diese Deutung geradezu befreit. Nun konnten sie nach Herzenslust forschen. Schließlich war der menschliche Körper kein heiliges Gefäß der Seele mehr, sondern nur eine Art materielle Hülle ohne rechte Bedeutung. Das Tier, dem Descartes den Besitz einer Seele absprach, mutierte gar zu einer Sache. Schmerzenslaute einer gequälten Kreatur ließen sich so als rein mechanischer Vorgang interpretieren, dem man etwa die gleiche Bedeutung zumaß wie den Orgelpfeifen, die das Wasser dazu brachte, einen Laut von sich zu geben.
Die Gleichgültigkeit gegenüber dem tierischen Leid: das war die Schattenseite von Descartes’ Theorie. Positiv wirkte sich dagegen aus, dass die Medizin das Prinzip von Ursache und Wirkung zum Maß aller Dinge erhob. Wenn ein Körper krank war, musste man „nur“ die Ursache erkennen und durch die richtigen Maßnahmen beseitigen, um die Maschine Mensch wieder in Gang zu setzen.
Warum der Tractatus de Homine erst nach dem Tod von Descartes erschien
Allerdings dauerte es bis dahin noch einige Jahrzehnte. Denn Descartes Theorie war derart revolutionär, dass er es selbst nicht wagte, den Traktat zu Lebzeiten zu publizieren. Descartes war von Jesuiten erzogen worden und wusste genau, dass seine Thesen an Blasphemie grenzten. Schließlich stellten sie alle kirchlichen Vorstellungen von Leben und Tod, von leiblicher Auferstehung und dem Jenseits in Frage. Im Raum stand der erzwungene Widerruf Galileo Galileis am 22. Juni 1633. So schrieb Descartes im November 1633 an Marin Mersenne: „Ich will Ihnen sagen, dass ich mich dieser Tage in Leiden und Amsterdam habe danach erkundigen lassen, ob das System der Welt von Galilei dort vorhanden ist, weil mir schien, als hätte ich gehört, es sei im vergangenen Jahr in Italien gedruckt worden. Man berichtete mir, es sei wahr, dass es gedruckt worden sei, zur gleichen Zeit aber seien in Rom sämtliche Exemplare verbrannt und er selbst sei zu irgendeiner Strafe verurteilt worden. Das hat mich so sehr in Erstaunen versetzt, dass ich mich so gut wie entschlossen habe, alle meine Papiere zu verbrennen oder sie zumindest niemanden sehen zu lassen. ... Aber genauso, wie ich um nichts in der Welt möchte, dass ein Entwurf von mir herauskommt, in dem sich auch nur das geringste Wort finden ließe, das von der Kirche missbilligt würde, genauso ziehe ich es vor, ihn eher zu unterdrücken, als ihn verstümmelt erscheinen zu lassen. Ich habe noch nie Lust verspürt, Bücher herzustellen, und wenn ich mich nicht durch das Versprechen Ihnen und einigen anderen Freunden gegenüber gebunden hätte, damit der Wunsch, Ihnen gegenüber Wort zu halten, mich umso mehr zum Studium verpflichtete, wäre ich damit niemals zum Ende gekommen.“
Das weitere Schicksal des Tractatus de Homine
Descartes zerstörte seine Abhandlung über den Menschen nicht, sondern fertigte noch während seines Lebens mindestens zwei Abschriften an. So verbreiteten sich seine Ideen innerhalb seines Freundeskreises. Nach seinem Tod ging das Manuskript zusammen mit seinem literarischen Nachlass an Claude Clerselier (1614-1684). Als der die Publikation in Angriff nahm, merkte er, dass kein Leser in der Lage sein würde, die Ausführungen Descartes’ ohne Illustrationen zu verstehen. Er suchte also einen medizinisch geschulten Zeichner.
Unser Werk ist von Louis de la Forge illustriert und kommentiert. Er war ein großer Verehrer des verstorbenen Philosophen und gleichzeitig ein erfahrener Arzt, der in Saumur praktizierte. Er arbeitete mit dem Originaltext von Descartes, der seitdem als verloren gilt. So werden wir nie wissen, ob und in wie weit die Herausgeber bei der Publikation von Descartes eigene Ideen einbrachten.
Wie auch immer, der Tractatus de Homine veränderte unseren Blick auf den Menschen unwiderruflich. Wer heute beklagt, wie die Aufklärung das Tier zur Sache machte, muss sich bewusst sein, dass eben dadurch auch die Entwicklung der modernen Medizin erst möglich wurde.