Der Anti-Malthus: Die Silvesterglocken von Charles Dickens
Während "A Christmas Carol" von Charles Dickens zu den bekanntesten Weihnachtsgeschichten gehört, kennt heute niemand mehr seine "Die Silvesterglocken". Das ist verständlich, denn "Die Silvesterglocken" sind auf ihrem historischen Hintergrund zu sehen. In ihnen spiegelt sich die britische Armutsdebatte der 1840er Jahre.
Im Frühjahr des Jahres 1844 erschütterte ein Skandal das bürgerliche London. Ein britisches Gericht hatte Mary Furley wegen Kindsmord zum Tode verurteilt. Ihr Verteidiger machte die Hintergründe der Tat weithin bekannt: Die ledige Mutter unternahm einen Selbstmordversuch, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sah. Ohne Verwandtschaft, ohne Unterkunft, ohne Arbeit, blieb ihr nur noch der Weg ins Arbeitshaus. Davor hatte Mary Furley Angst. Sie wusste, dass man sie sofort von ihrem Kind getrennt hätte. Harte Arbeit, sadistische, im besten Fall gleichgültige Aufseher sorgten für gnadenlose Disziplin. Essen? Das reichte gerade, um nicht Hungers zu sterben. Die meisten Kinder überlebten diese Behandlung nicht. Mary Furley zog den Sprung in die Themse dem Arbeitshaus vor. Ihr Baby starb. Sie wurde gerettet und vor den Richter gezerrt. Und nun diskutierte ein ganzes Land, ob Mary Furley zu verdammen oder zu bemitleiden sei. Trug die moralische Verkommenheit einer Mary Furley oder die unhaltbaren Zustände der britischen Armenfürsorge die Verantwortung für den Tod des Kindes?
Artikeltext:
Eine neue Armengesetzgebung
Am Schicksal von Mary Furley zeigten sich unübersehbar die schrecklichen Folgen, die das Armengesetz von 1834 für die Betroffenen hatte. Dabei gab es für dieses Gesetz ursprünglich einen breiten Konsens. Nur ein paar Radikale hatten es abgelehnt. Es basierte auf der neuesten Forschung. Malthus hatte mit mathematischer Genauigkeit nachgewiesen, dass es kontraproduktiv sei, den Armen hohe Unterstützungen zu gewähren, weil dies die Zahl der Armen langfristig nur vergrößere. Das Arbeitshaus galt als eleganter Ausweg. Wer keine andere Lösung sah, erhielt hier wenigstens genug Nahrung, um zu überleben. Eine Wahrung der menschlichen Würde war dabei nicht vorgesehen.
Besonders für ledige Mütter stellte das neue Armengesetz eine große Verschlechterung dar. Vorher hatte die Armenbehörde den Vater des Kindes ausfindig gemacht und gezwungen, Unterhalt zu zahlen. So viel Mühe machte man sich nach der Gesetzesänderung nicht mehr. Man argumentierte, dass die staatliche Fürsorge Frauen bisher geradezu zur Unzucht verleitet habe. Aus Angst vor den Folgen sollten die Frauen lieber moralisch leben. Dass der Missbrauch von Dienstboten alltäglich, das Leben als Gelegenheitsprostituierte oft die einzige Verdienstmöglichkeit für Frauen ohne Ausbildung war, das interessierte die Behörden nicht.
Mary Furley und der Tod ihres Babys stellte die Effizienz der neuen Gesetze in Frage. Ihr Schicksal inspirierte Charles Dickens zu seiner Novelle, die wir in Deutschland als "Die Silvesterglocken" kennen.
Dienstmann Toby und Alderman Cute
Charles Dickens beschäftigte sich nicht zum ersten Mal mit dem Schicksal der Armen. Ihre Nöte und Ängste durchziehen all seine Werke. Doch die "Silvesterglocken" sind anders. Ihnen fehlt der freundliche Optimismus, der Dickens heute noch so lesenswert macht. Stattdessen finden wir Resignation, Hoffnungslosigkeit, Wut und Schuldzuweisungen.
Die Geschichte lebt von der Gegenüberstellung des einfältigen Dienstmannes Toby mit dem smarten Alderman Cute. Sozusagen der Arme und sein Fürsorger. Dabei hat Cute sogar ein reales Vorbild. In ihm parodierte Dickens den ehemaligen Bürgermeister von London, Sir Peter Laurie, der in Leserbriefen und Zeitungsartikeln à la Malthus nachzuweisen suchte, dass der Arme selbst schuld an seinem Elend sei.
In den "Silvesterglocken" wird Tobys Festmahl zum Diskussionspunkt. Meg, seine Tochter, hat ihm eine Portion Kuttelfleck gebracht, um ihn darauf einzustimmen, dass sie endlich ihren geliebten Richard heiraten wird. Kuttelfleck kennt heute niemand mehr. Es handelt sich um Pansen, um Kuh- oder Schafsmagen, ein Abfallprodukt der großen Schlachtereien. Um dieses Fleisch genießbar zu machen, muss man es mehrere Stunden reinigen, mehrere Stunden kochen und dann erst zubereiten. Was wir heute unseren Hunden geben, ist für Toby ein heiß begehrter Leckerbissen. Doch während er noch schlemmt, kommt Alderman Cute daher, nimmt dem hungrigen Toby den Teller weg und seziert das darauf liegende Essen. Mit wohlgesetzten Worten informiert er Toby, dass der Verzehr seiner Kutteln der Gemeinschaft mehr Ressourcen raube als jedes andere Fleisch auf dem Markt.
Toby ist beeindruckt. Er glaubt dem Politiker, genauso wie er dem Parlamentsmitglied Sir Joseph Bowley zustimmt, als der lauthals verkündet, dass viele Arme grundböse, stur, widerborstig und seiner Fürsorge nicht wert seien. Bowley macht das an dem Unruhestifter Will Fern fest, der sich weigerte für seine milde Gabe zu stricken!
Eben diesen Will Fern trifft Toby am eiskalten Silvesterabend auf den Straßen von London. Er trägt seine Pflegetochter Lilian und ist völlig erschöpft. Die beiden hungern, frieren, sind obdachlos und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Toby nimmt sie mit nach Hause, gibt ihnen das Essen, das für Meg und ihn gedacht war. Angesichts ihres Elends hungert er lieber, als die Verzweifelten weiterzuschicken.
Der Traum
Soweit der erste Teil der Erzählung. In ihm zeigt uns Charles Dickens seine Protagonisten von ihrer liebenswertesten Seite. So weckt er unsere Anteilnahme am gutmütigen Toby, an der fröhlichen Meg, dem entschlossene Richard, dem liebevollen Will, und der vertrauensseligen Lilian. Doch nun schläft Toby ein und träumt. Er träumt seinen eigenen Tod und dass die Geister der Silvesterglocken ihm einen Blick auf das Schicksal seiner Lieben enthüllen.
Dieses Schicksal ist schrecklich und gleichzeitig so folgerichtig! Überzeugt durch die Ausführungen von Alderman Cute beschließt Meg, nicht zu heiraten. Der einsame Richard wird zum Alkoholiker. Und das ist immer noch besser als das Schicksal von Will Fern, den die Behörden als Unruhestifter abgestempelt haben. Mal werfen sie ihn ins Gefängnis, weil er einen Apfel pflückt; mal bettelt er im falschen Revier oder besitzt keine Aufenthaltsgenehmigung, mal schnitzt er einen Stock, mal hat ein Polizist einfach schlechte Laune, egal was Will tut, er landet in der Zelle. Für Lilian kann er so natürlich nicht mehr sorgen. Sie überlebt nur, weil sie sich prostituiert. Sie wird zur Ausgestoßenen, von der nicht einmal Meg mehr etwas annimmt. Und das obwohl sie es bitter nötig hätte. Denn aus Erbarmen heiratet sie dann doch den alkoholkranken Richard, und zwar kurz vor seinem Tod. Er lässt sie mit einem kleinen Kind allein zurück. Verlassen von aller Welt bleibt der nun nicht mehr fröhlichen Meg nur ein Ausweg: Sie geht zur Themse, um sich und das Kind zu ertränken.
Ein Traum im Traum oder gar Hoffnung?
An dieser Stelle bricht Dickens ab und verkündet, all das sei ein Traum gewesen. Und so endet die Geschichte doch noch in einem Happy End: Meg und Richard heiraten. Will und Lilian finden eine gut situierte Verwandte, die sich freut für sie sorgen zu dürfen. Also Ende gut, alles gut.
Ende gut, alles gut? Nein, sagt der Autor. Könnte dieses Ende nicht ein Traum im Traum gewesen sein? Ist nicht das unausweichliche Elend der Armut wesentlich realistischer? Jedenfalls solange sich nicht alle Leser anstrengen würden, die Armenfürsorge etwas menschlicher zu gestalten!
Diskussion über ein radikales Stück Literatur
Die Wirkung der "Silvesterglocken" ging weit über das hinaus, was Weihnachtsgeschichten normalerweise tun. Sie regten die Diskussion an. In jedem Club, in jedem Salon, auf der Straße und im Parlament stritten die Menschen darüber, wie mit den Armen umzugehen sei. Dickens gab ihnen ein Gesicht, mit dem man sich identifizieren konnte. Ein weiterer Skandal zwei Jahre später brachte Ende der 1840er Jahre leichte Korrekturen in der staatlichen Armengesetzgebung.
Doch letztendlich war es nicht das menschliche Mitgefühl, sondern der politische Kampf gegen den Kommunismus, der aus dem kapitalistischen Staat den Sozialstaat formte.
Ach ja, auch wenn es für die Geschichte kaum eine Rolle spielt. Mary Furley wurde nicht hingerichtet. Man begnadigte sie zur Deportation.
"Die Silvesterglocken" fanden keine Aufnahme in die Manesse Weihnachtsgeschichten von Charles Dickens. Wir wurden darauf aufmerksam, weil der WDR eine Lesung dieses bemerkenswerten Buches im Jahr 2023 zu Weihnachten ausstrahlte.