Eigentlich ist die Novelle "Eine Frage der Schuld" völlig aus der Zeit gefallen. Da stimmt ein junges Mädchen zu, einen wesentlich älteren Mann zu heiraten. Der Mann begehrt ihren straffen Körper. Das Mädchen träumt von, ja von was träumt es eigentlich? Vom großen Gleichklang der Seelen? Nun, das dürfte sich schnell als unrealistisch herausgestellt haben. Die Hochzeitsnacht jedenfalls, die in der Novelle tatsächlich thematisiert wird, ist völlig desillusionierend. Und so hofft die junge Frau auf die aufregenden Pflichten einer Hausfrau. Sie setzt ihren Stolz darein, die Kinder sorgfältig zu erziehen. Sie verwaltet den Haushalt ihres Mannes perfekt, um wenigstens dafür geschätzt und geehrt zu werden. Doch ihren Mann interessiert das nicht. Die Kinder sind ihm gleichgültig. Ihre haushälterischen Glanzleistungen nimmt er nicht wahr. Er registriert nur, wenn ihm etwas an seiner Bequemlichkeit fehlt. Und als ein anderer seiner hübschen Frau ein klein wenig Aufmerksamkeit schenkt - in allen Ehren selbstverständlich, wird ihr Mann eifersüchtig bis zum Wahnsinn. Als moderne Leserin ist man immer wieder nahe daran, das Buch aus der Hand zu legen. "Ach komm!", möchte man der Protagonistin zurufen, "Verlass endlich den Idioten, und dann gut. Lass den anderen für dich sorgen. Zieht in ein fernes Land und werdet glücklich. Hör endlich auf, dich zum Opfer zu machen!" Aber nein; unaufhaltsam steuert die Geschichte auf ihr böses Ende zu: Irgendwann gerät der eifersüchtige Ehemann derart außer Kontrolle, dass er seine Gemahlin im Affekt mit einem Briefbeschwerer erschlägt.
Puh, endlich ist die Geschichte aus. Man hat's überstanden. Nur noch das Nachwort, das die Herausgeber der Manesse Bibliothek der Weltliteratur jedem Bändchen beigeben. Und plötzlich sieht man die Erzählung in einem ganz anderen Licht.
Sie wurde nämlich verfasst von der Gemahlin von Lew Tolstoi und ist eigentlich die Antwort auf eine andere Geschichte, die ihr Gatte 1890/1 publizierte. Im Original heißt Sofjas Werk "Wessen Fehl? Die Erzählung einer Frau. (Anlässlich der Kreutzersonate Lew Tolstois)." Jahrzehntelang lag die Gegendarstellung zu Tolstois Kreutzersonate im Schreibtisch, ehe sie 1984 in russischer, 2008 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde. Die Kreutzersonate hat dagegen ihren Platz in der Literaturgeschichte gefunden, und das obwohl sie bei ihrer Entstehung so skandalös war, dass es zwei Jahre dauerte, bis die zaristische Zensur ihren Druck erlaubte - und das auch nur, weil sich handschriftliche Kopien sowieso in der gesamten Schicht der Intellektuellen verbreitet hatten.
Mit seiner Erzählung stellte Tolstoi nämlich die Basis jeder Gesellschaftsordnung in Frage. Er kreist in ihr um das Thema Mann, Frau und Ehe. Die Novelle erzählt im Grunde dieselbe Geschichte wie die seiner Frau, doch diesmal aus der Perspektive des Mannes: Der weiß selbst, dass er das Mädchen nur wegen ihres jugendlichen Körpers geheiratet hat. All ihre Bemühungen, ihm zu gefallen, lassen ihn kalt. Aber immer wieder überfällt ihn die Eifersucht, wenn seine hübsche Frau mit einem jungen Geiger Beethovens Kreutzersonate übt. Großartig in seinem Psychogramm des sich allmählich steigernden Wahnsinns beschreibt Lew Tolstoi die Versuche des Mannes, seine Wut zu beherrschen. Doch immer mehr gerät die Situation außer Kontrolle, bis er zum Schluss seine Gemahlin tötet.
Der gesellschaftliche Sprengstoff dieser Geschichte ist in ihrer Rahmenerzählung verborgen. Denn Tolstoi lässt den von der Justiz freigesprochenen Mörder selbst sein Schicksal berichten. Seine Zuhörer sind einige Zugreisende, die sich die lange Fahrt verkürzen, indem sie über die Ehe diskutieren. Während sie den modernen Ansprüchen eines bereits existierenden Feminismus' das klassisch-russische Ehemodell gegenüberstellen, plädiert Tolstoi mit seiner tragischen Geschichte für die grundsätzliche Unvereinbarkeit der Wünsche von Mann und Frau.
Als Tolstoi diese Erzählung veröffentlichte, war er als gefeierter russischer Nationaldichter eine Person des öffentlichen Interesses. Alle, die sich für Literatur interessierten, wussten von der schlechten Ehe, die Lew und Sofja miteinander führten. Viele dürften persönlich miterlebt haben, dass Sofja Lew wegen seines Verhaltens Vorwürfe machte. Es lag also nahe anzunehmen, Tolstoi habe die eigene Biographie in der Kreutzersonate verarbeitet. Schließlich stimmten viele Details der Erzählung mit der Realität überein. Auch Sofja hatte Lew im zarten Alter von 18 Jahren das Jawort gegeben, ihm eine große Kinderschar geboren und dabei seinen Alltag organisiert. Sie war es, die den Haushalt leitete, mit Verlegern verhandelte, die Manuskripte abschrieb - Krieg und Frieden allein sieben Mal. Sofja hatte ihr eigenes Leben aufgegeben, um das ihres Mannes zu teilen, und der verweigerte ihr dafür jede Form von Liebe und Anerkennung.
In einer 1890 publizierten Nachschrift zur Kreutzersonate erläuterte Lew Tolstoi, warum: Er predigte die Enthaltsamkeit - und das nach der Zeugung von 17 Kindern - zu seinen 13 überlebenden Nachkommen kamen noch die drei Fehlgeburten Sofjas sowie ein unehelicher Spross aus einem Seitensprung mit einer Bäuerin. Plötzlich lehnte Tolstoi die Ehe grundsätzlich ab, und zwar weil alles Geschlechtliche tierhaft sei. So bleibe auch die Emanzipation der Frau eine Farce, jedenfalls solange sie über einen begehrenswerten Körper verfüge, den sie nutzen könne, um sich die Männer zu unterwerfen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. Der einzige ehrenhafte Ausweg für jeden Mann sei es, ein völlig asexuelles Leben zu führen.
Tolstoi glaubte diesen Blödsinn tatsächlich. Nachdem ihm der Ruhm schal geworden war, suchte er nach neuen Ufern und fand sie in der Askese: Ein frugaler Lebensstil, harte körperliche Arbeit, vegetarische Nahrung, die Ablehnung aller Regierungsformen und Amtskirchen... Sogar die Wüstenväter hätten von Tolstoi Enthaltsamkeit lernen können! Den eigenen Besitz plante er zu verschenken, ganz wie Christus befohlen hatte: "Geh hin, verkaufe alles, was du hast, ... und folge mir nach!"
Der heilige Tolstoi fand seinen Propheten in dem reichen Adligen Wladimir Grigorjewitsch Tschertkow. Der wurde zum Gründer der Tolstojaner, die ganz im Sinne ihres Meisters in ländlichen Kommunen lebten und seine Lehren befolgten. Tschertkow überredete Tolstoi, ein neues Testament zu machen, in dem er seiner Gattin Sofja, die bis dahin sein literarisches Werk betreut hatte, alle Rechte daran nahm und auf ihn, Tschertkow, übertrug. Tolstoi tat dies, denn seine bedingungslose Nächstenliebe galt allen, außer seiner Frau. Er drängte Sofja in die Rolle der Xantippe, die ihren heiligen Mann vergeblich dazu zu zwingen versuchte, den Unterhalt für die eigene Familie zu sichern. Die Auseinandersetzung gipfelte darin, dass der sterbende Tolstoi sein Haus verließ und seine Jünger Sofja die Versöhnung und den Abschied vor seinem Tod verweigerten.
Sofja durfte immerhin bis zu ihrem Tod im Jahr 1919 auf dem Landgut ihres Mannes bleiben. Danach übernahm es mit Zustimmung der sowjetischen Regierung ein Kollektiv der Tolstojaner.
Ich gebe zu, ich hätte all das wissen müssen, bevor ich Sofjas Roman las. Dann hätte ich ihr eher gerecht werden können. Die mir unerträgliche Duldsamkeit der Protagonistin war das, was die Gesellschaft von Sofja erwartet hatte. Ehrlich, ich bin froh, dass sie diesen Erwartungen nicht gerecht wurde und Lew Tolstoi lautstark und immer wieder die Leviten las. Es ist eine Schande, dass man ihr, die gegen ihren Willen die Folgen von Tolstois Bekehrung tragen musste, bis heute eine gerechte Beurteilung versagt. Auch wenn ich ihren Roman trotz allem nicht zur hohen Literatur zählen kann.