Viele von uns kennen zumindest eine Szene der Nibelungensage: Siegfried tötet den Drachen und badet in dessen Blut, um unsterblich zu werden, doch durch ein auf seinem Rücken landenden Blatt misslingt dieser Plan und die verwundbare Stelle wird ihm später zum Verhängnis. Doch wie kam es überhaupt erst zu diesem wortwörtlichen Blutbad? Und warum musste Siegfried eigentlich sterben?
Diese und noch viel mehr Fragen werden im sogenannten Nibelungenlied beantwortet. Hierbei handelt es sich um die wichtigste hochmittelalterliche Überlieferung der Nibelungensage, deren ursprünglicher Autor, wie es für Heldenepen üblich ist, bis heute unbekannt bleibt. Die mystische Aura, die dieses riesige, jahrhundertealte Werk umfasst, wird dadurch umso mehr gesteigert, genauso wie durch die zahlreichen Theorien und Überlegungen, die den historischen Ursprung der Figuren und der erzählten Ereignisse umranken. Tatsächlich reichen die Wurzeln der Nibelungensage bis in die germanische Spätantike zurück, denn es wird vermutet, dass eines der zentralen Handlungsthemen der Sage die Zerschlagung des Burgunderreiches durch Attila im Jahr 436 n. Chr. sei. Wegen der Nibelungensage wird hierbei vom “Heroischen Zeitalter” Deutschlands gesprochen und das Werk galt in den letzten beiden Jahrhunderten als Nationalepos der Deutschen.
Artikeltext:
Von Träumen, Drachen, Liebe und Mord
Da das Nibelungenlied mit seinen insgesamt 39 Kapiteln und insgesamt 2400 Strophen neugierige Erstleser*innen auf den ersten Blick geradezu erschlägt, wird es in zwei Teile aufgeteilt: der Erste (1.-19. Abenteuer) befasst sich mit der Ehe zwischen Kriemhild und Siegfried sowie dessen Ermordung, der Zweite (20.-39. Abenteuer) mit Kriemhilds Rache. Was diese Situation noch dramatischer und verzwickter macht, ist die Tatsache, dass es sich bei den Mördern ihres Ehemannes um Kriemhilds eigene Brüder handelt.
Es wird in vierzeiligen Strophen gedichtet, doch der Rhythmus und die Melodie sind uns kaum bekannt, weswegen von einer eigenen Dichtform, den sogenannten “Nibelungenstrophen”, gesprochen wird. Durch die zahlreichen und sehr unterschiedlichen mündlichen Überlieferungen der Sage kam es beim ersten Verschriftlichen zu vielen Verwirrungen und Änderungen in der Handlung und Figurendarstellung, und es wurden viele wichtige Szenen wie der Kampf Siegfrieds mit dem Drachen nur nebenbei erwähnt, um den Fokus mehr auf Kriemhilds “character development” zu richten.
Genau dieses wird nämlich zum entscheidenden Handlungsstamm des Nibelungenlieds und kann gleichzeitig auch als Wandel zum modernen Frauenbild und Emanzipationsversuch angesehen werden. Während Kriemhild zunächst von ihren männlichen Verwandten herumkommandiert und unterdrückt wird, weigert sie sich wegen ihrer düsteren Traumvision davor, sich zu verlieben und zu heiraten und will lieber eine ewige Jungfrau bleiben. Als sie dann jedoch den jungen Siegfried kennenlernt und ihn heiratet, verlangt sie den gleichen Erbanteil von ihrem verstorbenen Vater wie ihre Brüder, was für eine Menge frauenfeindlicher Reaktionen von allen Seiten sorgt, sodass sie sich zunächst wieder unterordnet. Als jedoch ihr Mann von ihren Brüdern ermordet und sie auch noch um ihr Vermögen betrogen wird, platzt Kriemhild der Kragen: mit einem Schwert schlägt sie ihrem Bruder Hagen den Kopf ab, woraufhin ihr anderer Bruder Hildebrand sie erschlägt. Allerdings nicht wegen der Trauer um Hagen (er hatte selber vorgehabt, ihn umzubringen), sondern, weil es in seinen Augen eine Schande war, dass ein “Held” durch eine Frau getötet wurde.
Das Vermächtnis der Heldenzeit
Aus verschiedenen Gründen handelt es sich bei der hier präsentierten Buchausgabe um etwas Besonderes. Es ist eine sogenannte Gedächtnis-Ausgabe zum 50. Todestag von Richard Wagner (1813-1883). Er war ein bis heute berühmter Dirigent, Schriftsteller, Komponist, Dramatiker und Theaterregisseur und neben seinen zahlreichen Stücken und Werken arbeitete er auch von 1848 bis 1874 an dem vierteiligen Opernzyklus “Der Ring des Nibelungen”, welches bis heute eines der umfangreichsten Bühnenstücke aller Zeiten ist. Die Aufführung selbst dauerte insgesamt 16 (!) Stunden und wurde auf mehrere Tage verteilt. Bevor er begann, an diesem Werk zu arbeiten, soll er sich bereits um 1843 intensiv mit der Nibelungensage, aber auch mit anderen Sagen wie der nordischen Edda und der griechischen Mythologie beschäftigt haben. Das Vorwort von Prof. Dr. Wolfgang Golther beschäftigt sich mit Wagner und dessen “Ring des Nibelungen”.
Trotz seines Ruhms sollten seine Werke und Aussagen kritisch betrachtet werden; zu seinen Lebzeiten vertrat er verschiedene antisemitische Ansichten, welche sein damaliges Umfeld widerspiegeln, in welchem solche Ansichten noch “üblich” waren. Gleichzeitig pflegte er aber auch Freundschaften zu jüdischen Personen, weshalb sich bis heute die Frage stellt, inwiefern seine Äußerungen seine eigenen Werke und sein Umfeld beeinflussten.
Während das Vorwort also die Widmung und genauere Details zum Theaterstück erläutert, beschäftigt sich die Einleitung von Max von Boehm mit den “Nibelungen in der Kunst”, also in verschiedenen Darstellungen der Malerei, Skulptur und Architektur. Da viele Menschen im frühen Mittelalter noch nicht lesen konnten, waren vor allem die Malereien für sie sehr hilfreich, um die Geschichte trotzdem verstehen zu können. Auch die liebevoll gestalteten Illustrationen zu den einzelnen Kapiteln, von denen einige oben zu sehen sind, erfüllen diesen Zweck und fassen den Inhalt der jeweiligen Kapitel zusammen. Skulpturen dienten hingegen oft als Denkmäler zu Ehren Siegfrieds, welcher durch seine Taten und sein tragisches Ende als Nationalheld gefeiert wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sogar eine sogenannte Nibelungenhalle am Hang des Drachenfels gebaut; hier soll Siegfried angeblich den Drachen erschlagen haben, weswegen am Ende der “Drachenhöhle” eine große steinerne Drachenstatue an den epischen Kampf erinnert. Ich selber bin übrigens in der Nähe des Drachenfels aufgewachsen und war schon einige Male dort, und bis heute finde ich es extrem spannend, wie dieses Gebäude die Nibelungensage am Leben erhält.
Alles in allem lässt sich also festhalten, dass das Nibelungenlied ein extrem wichtiges Zeugnis der historischen Entwicklung Deutschlands über die Jahrhunderte ist. Das hier vorgestellte Buch gibt nicht nur diese Erzählung wieder, sondern thematisiert auch die wichtigsten ihrer modernen Adaptionen und Umsetzungen. Und auch wenn die Sage und ihre Bedeutung für die Menschen sich im Laufe der Zeit ständig verändert haben, handelt es sich immer noch um eine extrem spannende und tragische Geschichte, welche hoffentlich auch in der Zukunft noch viele neugierige Leser*innen für sich gewinnen wird.
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