Das gespaltene Amerika: Main Street von Sinclair Lewis
Wir glauben heute, dass die geistige Spaltung der Vereinigten Staaten neu ist. Doch als Sinclair Lewis in den 1920er Jahren seinen Roman über eine ambitionierte junge Frau in einer Kleinstadt schrieb, existierte diese Spaltung bereits. Bodenständig – traditionell – erzkonservativ: die Kleinstadt; fortschrittlich – tolerant – abgehoben und weltfern: die Großstadt. Wobei die Heldin der Erzählung schon damals feststellte, dass Kleinstadt und Großstadt keine geographischen Begriffe sind, sondern Mentalitäten.
Artikeltext:
Es ist der Clash of Cultures, als die junge Carol als Frau des Landarztes Will Kennicott das Kleinstädtchen Gopher Prairie / Minnesota betritt. Gopher Prairie? Sie können die genaueste Landkarte der Vereinigten Staaten konsultieren und werden es nicht finden! GP – wie es seine fiktiven Einwohner liebevoll nennen – steht für alle Gopher Prairies der Vereinigten Staaten, seine Bürger für den amerikanischen Kleinstadtbewohner schlechthin, also für all diejenigen, denen es genügt, jeden Tag in die Arbeit zu gehen, Dollar auf Dollar zu häufen und sich über die Verfehlungen der lieben Nachbarn das Maul zu zerreißen.
Und ausgerechnet in dieses spießige Nest zieht die junge Carol mit all ihren Ambitionen und Träumen, mit ihrem Anspruch an sich selbst, die Welt ein bisschen schöner, besser, gerechter und lebenswerter zu machen. Kein Wunder, dass sie als weltfremde Idealistin schnell an die Grenzen der Duldsamkeit stößt. Ihre Ambitionen werden ihr als Arroganz ausgelegt, als Kritik am kleinstädtischen Leben. Man lacht über sie, konterkariert ihre Bemühungen und lässt sie auflaufen. Carol Kennikot muss sich damit abfinden, dass sie die Kleinstadt nicht ändern kann. Aber muss sie das überhaupt?
Denn auch die Bürger der Kleinstadt haben ihre Tugenden. Nehmen wir nur Carols Mann, den Landarzt Will Kennicott. Carol begleitet ihn nur ein einziges Mal auf einer seiner vielen Fahrten über Land, um Leben zu retten. Da wird auf dem Küchentisch amputiert, ein Kind allen Widrigkeiten zum Trotz ins Leben gezogen. Ein Schneesturm verhindert die Heimfahrt, und Carol staunt, wie gewandt, wagemutig und selbstsicher ihr Mann die Schwierigkeiten des Lebens meistert. Sie muss sich eingestehen, dass sie, die große Weltverbesserin, nicht einmal in der Lage ist, ihm kleinste Hilfsdienste zu leisten.
Carol und Will: Sie beide stehen für unterschiedliche Menschentypen. Carol ist die ewig suchende Idealistin, die nach Reflexion, Anregung und Verbesserung strebt. Will ist der zufriedene und erdverbundene Realist, der Geld fürs Alter spart und so ganz nebenbei seinen Mitbürgern hilft, ihr grausames Leben zu bessern.
Aufbruch aus der amerikanischen Kleinstadt
Als Sinclair Lewis seinen durchaus satirisch gemeinten Roman schrieb, befand sich die gesamte amerikanische Welt im Aufbruch. Die Wirtschaft boomte, in den Städten herrschte Vollbeschäftigung, an der Börse Hochkonjunktur. Main Street entstand in den Roaring Twenties, ehe die Spekulationsblase am Black Thursday dem tollen Treiben ein Ende setzte.
Teil dieses Aufschwungs war eine bis dahin ungekannte Landflucht, die viele junge, ehrgeizige Menschen aus der Kleinstadt in die Großstadt trieb. Sie alle wollten der Enge ihrer Heimat entkommen und ein aufregendes Leben in Washington, New York oder San Francisco führen. Dieses aufregende Leben entpuppte sich schnell als harte Arbeit in einem Büro oder einer Fabrik – mit den kulturellen Anregungen, wie sie eine Großstadt gewährte, aber ohne das enge nachbarschaftliche Netz, das einen in der Kleinstadt so sicher und fest gehalten hatte.
Sinclair Lewis war selbst diesen Weg gegangen. Er wurde 1885 in der Kleinstadt Sauk Centre / Minnesota geboren. Seinen ersten Fluchtversuch unternahm er mit 13 Jahren, als er sich als Trommler im Spanisch-Amerikanischen Krieg verdingte. 1902 ließ er die Kleinstadt endgültig hinter sich. Nach einer Ausbildung an der Universität von Yale zog er erst nach San Francisco, später nach Washington D.C., wo er seine Klein- und Großstadterfahrungen im Roman Main Street festhielt.
Finanzielle Bande der Kleinstadt
Sinclair Lewis seziert in Main Street die Verhältnisse einer Kleinstadt minutiös. Er entlarvt all die unsichtbaren Verbindungen, die so ein Städtchen zusammenhalten. Carol lernt von ihrem Mann, welche ungeschriebenen Regeln ihr Leben beherrschen. Nein, man kauft nicht dort ein, wo es die beste Ware gibt. Man kauft bei denen, die sich von ihrem Mann behandeln lassen. Genauso zeichnet nicht der angenehme Umgang einen Freund aus, sondern die Frage, ob sich diese Freundschaft als wirtschaftlich nützlich erweist. Das ganze Städtchen teilt sich unsichtbar in diejenigen, die sich bei Dr. Kennicott behandeln lassen, und in die, die es nicht tun; genauso wie es sich in diejenigen teilt, die in dem einen oder in dem anderen Laden kaufen. Kein Einwohner kann es sich leisten, nicht die eine oder die andere Partei zu wählen, weil er sonst mit keiner der beiden Parteien seine Geschäfte machen würde.
Überhaupt, das liebe Geld. Carol durchschaut ihre Situation nur allzu schnell. Sie ist abhängig, solange ihr Mann ihr täglich das Haushaltsgeld gibt – und es gelegentlich auch mal vergisst. So kämpft sie um ein festes Budget, um ihrem Mann das nötige Geld nicht immer wieder abschmeicheln zu müssen. Damit bricht sie das ungeschriebene Gesetz von Gopher Prairie, das die Überlegenheit des Mannes zum Dogma erhoben hat.
Dieses Gesetz ist genauso ehern wie das, dass die bäuerlichen Produzenten nicht an ihrer Ware verdienen dürfen, sondern die Kleinstadt und ihre Händler. Da hält man eisern zusammen – über alle wirtschaftlichen Parteiungen hinweg. Wie kämen auch all die eingewanderten Deutschen und Schweden dazu, einen fairen Preis oder gar Lohn zu fordern! Sie sollen doch froh sein, dass man ihnen Arbeit gibt, genauso froh wie all die unterbezahlten Dienstmädchen der ehrbaren Bürgerinnen! Die schuften für schlechte Kost, noch schlechteres Logis und einen Hungerlohn rund um die Uhr. Oh wie lacht man über Carol, als sie einem schwedischen Dienstmädchen zahlt, was es verlangt – und wie beneidet man sie um die Kompetenz eben dieses Dienstmädchens.
Moralische Bedenken kennen diese kleinstädtischen Ausbeuter nicht. Sie greifen im Notfall sogar zu Lügen und Drohungen, um die Ausländer dazu zu bewegen, sich an amerikanischen Kriegsanleihen und der Finanzierung des YMCA zu beteiligen. Wer das nicht tue, so macht man ihnen vor, wandere sofort ins Gefängnis.
Auch wenn niemand es ausspricht: Geld ist der große Gott der Kleinstadt! Selbst ein Will Kennicott erfüllt seiner geliebten Carol nicht den brennenden Wunsch zu reisen – und sei es nur für ein paar Tage in die benachbarte Stadt, weil er alles Geld sparen will. Daran geht Carol genauso kaputt wie an der Selbstgerechtigkeit ihrer lieben Mitbürger. Die Außenwelt? Sie interessiert einen echten Einwohner von GP nicht. Sein Leben spielt sich entlang der Main Street ab, zwischen Eissalon und Holzlager, zwischen Silo und Bahnhof, zwischen Schule und Kirche.
Ein Kompromiss zwischen den beiden Amerikas
Letztendlich wagt Carol die Flucht nach Washington. Aber nur für ein paar Monate. Sie und ihr Mann lieben sich und so finden sie einen Kompromiss, der für beide lebbar ist. Will gibt in vielem nach, gibt Geld aus, um Carols Hunger nach Kultur zu befriedigen und Carol dämpft ihre Ansprüche, lernt so die Vorzüge der Kleinstadtbewohner zu würdigen. So finden in Main Street die beiden Amerikas am Ende zusammen. Heute, ein rundes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung, nachdem sich die Bewohner der USA noch viel weiter voneinander entfernt haben, wäre so ein versöhnliches Ende wohl unglaubwürdig.
Ein Bestseller
Sinclair Lewis landete mit seinem Roman Main Street einen unerwarteten Bestseller. Sein Agent hatte mit 25.000 verkauften Exemplaren gerechnet. Doch bereits in den ersten sechs Monaten waren 180.000 Bücher verkauft. Innerhalb weniger Jahre wurden daraus zwei Millionen.
Der Grund dafür war die Tatsache, dass Main Street den Nerv der Zeit traf. Fast jeder Bürger der Vereinigten Staaten war aus einer Kleinstadt geflohen oder lebte (noch) in einer. Jeder hatte selbst erlebt, was Sinclair Lewis da so humorvoll und unpathetisch beschrieb. Natürlich gab es auch diejenigen, die sich beleidigt zeigten, weil sie sich in den unfreundlicheren Porträts der Kleinstädter wiedererkannten. Denn Lewis hatte sich von den Bürgern seiner eigenen Heimat Sauk Centre inspirieren lassen. Das begriff ganz Amerika, das die Sportteams von Sauk Centre fortan als die Main Streeters bezeichnete.
Kleinstädter und Weltbürger
Beinahe hätte Sinclair Lewis mit Main Street bereits 1921 den Pulitzer Preis für Literatur gewonnen. Aber die gesetzten Herren des Verwaltungsrates stießen die gewagte Entscheidung der Jury um. Man weigerte sich, offiziell zu bestätigen, dass es sich bei Main Street um den besten „in diesem Jahr publizierten amerikanischen Roman“ handle, der „die Atmosphäre des amerikanischen Lebens einfange und für den höchsten Standard amerikanischer Sitten und Humanität stehe.“ Deshalb wies Lewis 1926 den Pulitzer Preis zurück, als ein weiteres von ihm verfasstes, wesentlich weniger kontroverses Buch ausgezeichnet werden sollte.
Auf das mit dem Pulitzer Preis verbundene Preisgeld konnte Sinclair Lewis leichten Herzens verzichten. Main Street hatte ihn märchenhaft reich gemacht. Er hatte rund 3 Millionen Dollars verdient, damals ein geradezu märchenhaftes Vermögen. 1930 erhielt er darüber hinaus den wesentlich renommierteren Nobelpreis für Literatur – und das als erster Amerikaner überhaupt. Ihn lehnte er nicht ab.
Der in Sauk Centre geborene Sinclair Lewis starb 1951 in Rom, während einer seiner vielen Reisen. Er wurde kremiert, um seine Asche nach Sauk Centre zurückzubringen, wo er heute auf dem Greenwood Cemetery sein Grab hat.