Nein, es handelte sich nicht um das, was wir heute als Biographien bezeichnen würden. Der heute wohl noch meist rezipierte Autor des Humanismus, Giovanni Boccaccio, wollte mit seinem Buch über die berühmten Frauen nicht das Schicksal von Individuen nacherzählen, sondern den Gebildeten seiner Zeit eine Fülle von „Exempla“ liefern. Unter einem „Exemplum“ verstand die Rhetorik damals ein erläuterndes Beispiel für eine Behauptung. Wer also behaupten wollte, dass die Frauen aufopferungswillig und treu seien, konnte in Boccaccios Buch dafür genauso Beweise finden wie dafür, dass sie verräterisch und egoistisch seien.
Heutige Feministinnen würden sich also schwer tun, Boccaccios Buch als einen Fortschritt für die Frauenbewegung zu verbuchen. Doch das war es: Erstmals hielt ein Humanist die Frauen eines Buchs überhaupt für würdig. Dass Boccaccio mit seinen Biographien trotzdem dem Zeitgeist verbunden blieb, wollen wir hier nicht bestreiten.
Artikeltext:
Boccaccio und die Frauen
Eine Gesellschaft, in der die schriftliche Überlieferung fest in kirchlicher Hand ist, wird sich schwer tun, das Wesen der Frau korrekt zu überliefern. Wie soll ein Mönch, der wegen seiner Gelübde kaum in der Position sein dürfte, einen entspannten Kontakt zur weiblichen Welt aufzubauen, vorurteilsfrei schildern, wie Frauen beschaffen sind? Die Aufteilung zwischen Heilige und Hure, zwischen Muttergestalt und Verführerin, zwischen schwarz und weiß, ohne alle Grautöne, ist so vorprogrammiert.
Doch im Humanismus eroberte sich die bürgerliche Welt Buch und Schrift zurück. Die Humanisten waren zwar gelegentlich auch Kleriker, stammten aber meist aus einer Welt, in der Männer und Frauen - wenn auch natürlich nicht gleichberechtigt - zusammenlebten.
Giovanni Boccaccio kannte Frauen, als Haushaltsmitglieder, Herrscherinnen, Mäzeninnen, Geliebte und in vielen anderen Funktionen. Zwar war seine Mutter früh verstorben, aber er durfte trotz seiner unehelichen Geburt im Haushalt seines Vaters aufwachsen. Während seiner Ausbildung zum Kaufmann kam Boccaccio nach Neapel und fand Zugang zum Musenhof des Robert von Anjou.
Dieser Robert trägt gelegentlich den Beinamen „der Weise“, den ihm Historiker, Dichter und Künstler wegen seiner umfangreichen Unterstützung verliehen. Boccaccio gefiel es in diesem illustren Zirkel. Er lernte Francesco Petrarca kennen und verliebte sich in die (ebenfalls uneheliche) Tochter des Königs, der er unter dem Namen Fiammetta eine Reihe von Gedichten widmete, die ihn unter den Intellektuellen Italiens bekannt machten.
1340 kehrte Boccaccio nach Florenz zurück. Er dürfte - schließt man aus seinen detaillierten Beschreibungen im Decamerone - das Leben in all seiner Fülle genossen haben. Seine Frauen sind keine blassen Abziehbilder, sondern leben, haben ihren eigenen Willen, entwickeln gelegentlich große Schlauheit und wissen sich in einer Welt der Männer durchaus durchzusetzen.
Etwa gleichzeitig förderte Boccaccio die Übersetzung der Werke des Homer und des Euripides aus dem Griechischen ins Lateinische. Natürlich wird er sich auch mit dem Inhalt der griechischen Dramen vertraut gemacht haben. Vergleicht man die farblosen Heiligen der Scholastik mit Medea, den Heldinnen der Troierinnen oder Iphigenie, wird schnell klar, wie Boccaccio auf die Idee kommen konnte, dass auch die Frauen des Schreibens wert seien.
Ein Beststeller der Frühen Neuzeit
Wohl in den Jahren zwischen 1361 und 1362 entstand eine erste Fassung von Boccaccios Buch über die berühmten Frauen. Er widmete es einer Freundin, der in Florenz lebenden Gräfin Andrea Acciaioli. Das relativ dünne Büchlein kursierte bald in ganz Europa in verschiedenen Abschriften und Übersetzungen. Es war ein Lieblingswerk aller Gebildeten, was wir schon allein aus der Tatsache schließen können, dass bis heute mehr als 100 Manuskripte, also handschriftliche Versionen überlebt haben. Dabei sind all die frühen Drucke noch gar nicht mitgezählt.
Boccaccio selbst überarbeitete den Text immer wieder bis kurz vor seinem Tode. Wissenschaftler kennen heute neun verschiedene Versionen aus seiner Hand.
Boccaccios Buch über die Frauen enthält 106 Biographien, die schon allein deshalb so bemerkenswert sind, weil die biblischen Gestalten darin kaum eine Rolle spielen, die Heiligen sogar völlig fehlen. Zwar beginnt Boccaccios Sammlung mit Eva, aber es werden weder Judith, Salome oder Maria erwähnt; auch die bekannten Heiligen wie Katharina von Alexandria oder Maria Magdalena werden übergangen.
Stattdessen finden wir Sempronia, die Tochter der Gracchen, Julia, die Tochter des Julius Caesar, Kleopatra, Faustina die Jüngere und Zenobia, nicht zu vergessen Irene, Kaiserin von Byzanz, und die Päpstin Johanna. Der Reigen bedeutender Persönlichkeiten reicht bis in die Zeit Boccaccios und endet mit Johanna I. von Neapel (1326/7-1382). Letztere wurde wohl nur deshalb eingefügt, weil der Autor 1362 an den Hof von Neapel eingeladen worden war und der Herrscherin damit schmeicheln wollte.
Eines darf man sich aber sicher nicht vorstellen, nämlich dass Boccaccio seine Geschichten als eine Art Lexikon zusammenstellte. Ihm ging es darum, beispielhaft die verschiedenen Typen von Verhalten zu zeigen. So standen Penelope, Dido, Artemisia und Porcia für die unterschiedlichen Formen von Liebe und Treue, Venus, Klytämnestra, Helena und Faustina für die Begierde; das Schicksal und seine Macht zeigte sich an Polyxenia, Kassandra und Thisbe, andere Frauen standen für die Dummheit, die Vernunft, die Großzügigkeit, den Wunderglauben und anderes mehr.
Das Nachleben eines Bestsellers
Was das Buch von Boccaccio so überaus wichtig macht, ist der Einfluss, den es auf das Kunstschaffen der kommenden Jahrhunderte hatte. Es inspirierte nicht nur das erste wirklich feministische Werk, das Buch über die Stadt der Frauen, das Christine de Pizan 1405 veröffentlichte. Boccaccios Geschichten wurden zum Allgemeingut, das man hervorragend nutzen konnte, wenn es darum ging, einem Raum mit moralisierenden Geschichten einen persönlichen Touch zu geben.
Die Geschichte von Kleopatra, die sich nach dem Tod ihres „geliebten“ Marcus Antonius im einsamen Kämmerchen von einer Schlange vergiften lässt, kannte kaum jemand in der Originalfassung, sondern in der Schilderung Boccaccios mit der anschließenden moralisierenden Deutung.
Wollte man eine Top-50-Liste der meist dargestellten, nicht biblischen Frauen der Renaissance und des Barock aufstellen, würde man sie alle mit Sicherheit unter den 106 ausgewählten Persönlichkeiten des Boccaccio finden.
Die Berner Ausgabe von 1539
Unser Exemplar von Boccaccios Buch über die berühmten Frauen entstand 1539 in der Druckerei des Matthias Apiarius in Bern. Es enthält eine je nach aufgewendeter Kaufsumme unterschiedlich reiche Bebilderung, deren Holzschnitte ein großartiger Künstler in der Nachfolge des Hans Holbein d. J. geschaffen hat. Manche Kunsthistoriker identifizieren ihren Urheber mit dem Illustrator Jakob Kallenberg.
Wenn Sie selbst einen Blick in das Buch tun wollen, können sie das auf e-rara.ch. Sollte der Server wie fast immer „überlastet“ sein, gehen Sie noch zwei-, dreimal auf denselben Link, meistens klappt es dann irgendwann.
Den besten Lexikoneintrag, den wir bei unserer Recherche gefunden haben, bietet nicht Wikipedia, sondern das Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte.
Wenn Sie ein Gesamtbild über Boccaccios Blick auf die Frauen haben möchten, gibt es eine umfangreiche Arbeit zu diesem Thema im Internet.
Wir haben dieses Buch in der Auktion 147 von Hartung & Hartung vom 5. Mai 2020 erworben.