Wir schreiben das Jahr 1755. Es ist der 1. November, der Allerheiligentag, ein großes Fest im katholischen Lissabon. Männer und Frauen sind dabei, sich auf den Kirchgang vorzubereiten. Die Ministranten haben schon die Kerzen angezündet und das Weihrauchfass gefüllt, da bricht plötzlich um 9.30, ca. 200 Kilometer vor der Küste der Boden ein. Erst kommt das Erdbeben, dann der Tsunami. Er kostete in der damals viertgrößten Stadt der Welt mehrere Zehntausend Menschen das Leben. Wie viele es genau waren, das wissen wir bis heute nicht.
Artikeltext:
Das erste Medienereignis der Neuzeit
Nicht dass es sich beim Erdbeben von Lissabon um die erste Katastrophe ihrer Art gehandelt hätte. Aber die portugiesische Hauptstadt war damals ein Handelszentrum mit exzellenten Postverbindungen zu allen wichtigen Städten Europas. Und so verbreiteten reitende Boten und Schiffe die Nachricht in der ganzen Welt. Innert einer Woche war Madrid informiert. Drei Wochen nach dem Beben sprach man in Paris und London darüber. Am 2. Dezember hatte die Nachricht die deutschen Städte Hamburg und Berlin erreicht. Und von da an gab es Neuigkeiten im Wochentakt. Erst Genaueres über das Erdbeben, dann wo man dieses Beben überall gespürt hatte, zuletzt über die Notlage der Bewohner Lissabons und den langsamen Wiederaufbau.
Um den Nachrichten mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, wurden viele von ihnen als eine Art Korrespondentenbriefe gestaltet, wie auch in unserem Einblattdruck.
Ein gutes Geschäft
Einblattdrucke waren in der frühen Neuzeit ein sehr erfolgreiches Medium, um Zeitungen - so das frühneuhochdeutsche Wort für Nachricht - zu verkaufen. Sie waren billig in der Herstellung und im Vertrieb. Häufig bestanden sie, wie unser Beispiel, nur aus zwei Seiten. Unzählige Einblattdrucke - illustriert und nicht illustriert - entstanden damals. Nur ein Bruchteil von ihnen hat sich bis heute erhalten.
Und wie das mit der Presse so ist: Je mehr darüber geschrieben wurde, umso schrecklicher und detaillierter wurden die Berichte über das sowieso schon schlimme Ereignis. 700.000 Portugiesen sollen dabei ums Leben gekommen sein, jedenfalls wenn wir unserem Einblattdruck glauben. Unser Autor verwendet sogar schon jenen Kunstgriff moderner Journalisten, ein Unglück nicht in Zahlen, sondern in Schicksalen begreiflich zu machen. So schildert er höchst beredt das schreckliche Ende eines jungen Bräutigams, seiner Braut und des Brautvaters: Nach neun Jahren heimlicher Liebe hatte das Paar endlich die väterliche Erlaubnis zur Ehe erhalten. Und genau während der Trauung bebte die Erde. Man flieht, gelangt gerade noch auf ein Schiff, das wenige Sekunden später von den Wellen des Tsunami versenkt wird.
Eine Strafe für den katholischen Aberglauben?
Nicht nur Menschen starben. Alle Kirchen und der königliche Palast stürzten ein. Das, so wetterten die protestantischen Prediger vor allem in England, musste als Strafe Gottes für den widernatürlichen Aberglauben der Katholiken und die auch in Portugal aktive Inquisition verstanden werden! Auch unser Einblattdruck betont die Tatsache, dass nur 10 oder 12 Engländer ums Leben gekommen seien, und das obwohl viele von ihnen in Lissabon lebten und Handel trieben. Dagegen wurde das Haus der Inquisition vom Abgrund verschlungen und 300 Jesuiten - damals das Hassobjekt aller aufgeklärten Bürger - wurden lebendig begraben. Ein Fanal gegen die katholische Kirche!
Also hüte man sich, den Fehler von Lissabon zu wiederholen. Oder, wie unser Autor es sagt: „Dieses herrliche Lissabon ist nun ein Steinhaufen und verwüstete Einöde. Gott sei ihm und uns allen gnädig!“
Voltaire und das Erdbeben
Nicht alle gaben den protestantischen Hasspredigern recht. Im Gegenteil, viele stellten den Glauben an sich in Frage: Kann das wirklich der gütige Gott sein, von dem uns die Schriften erzählen, der ein Erdbeben von Lissabon duldet? Warum geschah es ausgerechnet am Allerheiligentag? Wieso wurden die Kirchen vernichtet, während das Rotlichtviertel das Beben unbeschadet überstand? Diese Frage wurden von vielen diskutiert. Einer von ihnen dachte extremer und konsequenter als seine Zeitgenossen: François-Marie Arouet, den wir besser unter seinem Künstlernamen Voltaire kennen.
Er veröffentlichte wenige Monate nach dem Beben ein unter Intellektuellen heiß diskutiertes Lehrgedicht, dessen Titel in deutscher Übersetzung etwa heißen würde: „Gedicht über das Unglück von Lissabon oder eine Untersuchung des Axioms „Alles ist gut“.
Damit wendete sich Voltaire gegen die in der Philosophie eines Leibniz vertretene Auffassung, dass Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen habe. Und weil die Menschen lieber satirische Romane als Lehrgedichte konsumieren, legte Voltaire mit seinem Candide nach. Bereits 1759 erschien dieses Werk, in dem der Held des Romans so ziemlich jedes Unglück erleidet, das man sich nur vorstellen kann. Und natürlich spielt dabei das Erdbeben von Lissabon eine entscheidende Rolle.
Seitdem haben nur noch Kinderbücher, Trivialromane und Hollywood-Schnulzen ein Happy End. Autoren, die etwas auf sich halten, liefern ihre Helden den Schrecken der Welt aus, lassen sie an ihnen mehr oder weniger glorreich an ihnen scheitern.
Denn die Welt ist schlecht. Einen gütigen Gott, daran mögen Kinder und die ungebildete Masse glauben. Auf das Gute zu hoffen, ist nicht mehr en vogue.
Das Erdbeben von Lissabon war ein Wendepunkt in unserer Sicht auf die Welt. Nicht weil es schlimmer war als andere Erdbeben zuvor, sondern weil die damals modernste Medienwelt es dazu machte.
Dieser ausführliche Artikel beschäftigt sich mit der medialen Verbreitung der Neuigkeiten über das Erdbeben von Lissabon.
Und dieser Artikel erzählt Ihnen etwas über seine Auswirkungen auf die Philosophie.
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