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Anfang des Jahres 2024 erwarben wir vom Heidelberger Antiquariat Canicio ein Buch aus dem Besitz des in Torgau gebürtigen Michael Schultz (1599-1658). Dieser heute nicht allzu bekannte Pastor, der sich selbst gerne Praetorius nannte, war seit 1626 Geistlicher in Klettenberg und interessierte sich für Sprachen. Deshalb kaufte er vier philologische Werke und ließ sie zusammenbinden. Das wohl bekannteste davon ist Mithridates. Über die verschiedenen Sprachen von Conrad Gessner, gedruckt im Jahre 1555 bei Christoph Froschauer dem Älteren in Zürich. Mithridates gilt als das erste Werk der vergleichenden Sprachwissenschaft. Es ist außerdem ein Zeugnis für die Zusammenarbeit eines Dream Teams des reformatorischen Verlagswesens. Wir stellen Ihnen Christoph Froschauer, den Verleger, und Conrad Gessner, den Autor, in diesem Beitrag aus einer etwas anderen Perspektive vor. Aber dafür müssen wir erst einmal ins Jahr 1515 zurückgehen.
Das Ende einer Wirtschaftsära
Vergessen wir für einen Moment alles, was wir über die Zürcher Reformation zu wissen glauben. Betrachten wir sie ausnahmsweise aus einem anderen Blickwinkel und konzentrieren uns auf ihre wirtschaftlichen Aspekte. Dafür müssen wir zunächst mit einer wichtigen Einkommensquelle Zürichs in der Vorreformationszeit beginnen: dem Reisläufertum.
Reisläufer hießen damals die Söldner. Anders als heute verdingte sich ein Reisläufer nicht direkt bei einem Auftragsgeber. Er heuerte bei einem Kommandanten an, der als eine Art Kleinunternehmer den Söldner aus eigener Tasche bezahlte und seinerseits die Truppe als Ganzes an fremden Auftraggeber vermietete. Für die Erlaubnis, in einem bestimmten Territorium Söldner anwerben zu dürfen, musste der Kommandant zahlen. Manchmal direkt an die Stadtkasse; manchmal war es billiger, lokale Würdenträge zu beschenken-bestechen. Auf jeden Fall schwemmte das Reisläufertum viel Geld in die Stadt. Außerdem sorgte es dafür, dass junge Männer, die keine Arbeit fanden und deshalb einen potentiellen Unruheherd darstellten, außer Landes gingen. Zürich war eine große Nummer im Reisläufergeschäft und verdiente ausgezeichnet damit.
Dann kam das Jahr 1515 und die Schlacht von Marignano. Innerhalb von zwei Tagen starben neun- bis zehntausend Eidgenossen oder wurden schwer verletzt. Ein großer Teil von ihnen stammte aus Zürich – nicht aus der Stadt, sondern aus dem Umland. Viele arme Bauern verloren Familienmitglieder. Dafür machten sie die Zürcher Obrigkeit verantwortlich. Diese Unzufriedenheit gipfelte im Dezember 1515 in einem blutigen Aufstand, den Historiker verharmlosend den Zürcher Lebkuchenkrieg nennen.
Er wurde brutal niedergeschlagen. Aber viele Zürcher Stadträte lernten daraus, welche Gefahren das Reisläufertum mit sich brachte. Sie drängten auf ein Verbot. In diesen Zusammenhang gehört die Berufung von Huldrych Zwingli zum Leutpfarrer am Großmünster. Man kannte ihn als Kritiker des Söldnerwesens. Als Leutpfarrer sollte er mit der ganzen Autorität der Kirche gegen das Reisläufertum predigen.
Die Gründe der Reformation: Kein "entweder oder", sondern ein "sowohl als auch"
Dass Zwingli darüber hinaus die religiöse Rechtfertigung lieferte, die reichen Besitzungen der katholischen Kirche zu konfiszieren, löste ein drängendes Problem: So wurden die Löcher im Stadtsäckel gestopft, die durch den Wegfall des Söldnerwesens entstanden waren.
Es blieb die Arbeitslosigkeit. Wohin mit all den Bauernsöhnen, die auf dem väterlichen Gut überflüssig waren? Es brauchte neue, arbeitsintensive Betriebe. Wer einen aufbaute, konnte mit der Unterstützung des reformatorischen Stadtrats rechnen, umso mehr, wenn er ein begeisterter Anhänger der Reformation war.
Und damit sind wir bei Christoph Froschauer angekommen. Er wurde um 1490 im kleinen Dorf Kastl, nahe Altötting, geboren. In Augsburg lernte er das Druckhandwerk. 1515 machte er während der Wanderschaft Station in Zürich. Dort passierte ihm das, wovon jeder wandernde Geselle träumte: Eine Witwe bot ihm die Ehe an. Als Mitgift brachte sie die bestens ausgestattete Druckerei ihres verstorbenen Mannes mit in die Ehe.
Als Zwingli 1519 nach Zürich kam, dürfte es nicht lange gedauert haben, bis er die Bekanntschaft Froschauers machte. Die beiden werden schnell gemerkt haben, dass sich ihre religiösen Überzeugungen ähnelten. Nur so ist es zu erklären, dass sich Froschauer zum berühmten Wurstessen bereit erklärte. Am 9. März 1522 verstieß er in seinem Haus in Anwesenheit Zwinglis (der übrigens nicht mitaß) gegen kirchliches Gebot. Heute feiern wir ihn dafür als Vorkämpfer der Reformation. Damals war es ein großes Risiko, das ihn die Existenz hätte kosten können. Der Rat leitete sogar eine Untersuchung ein. Zwingli verteidigte Froschauer stimmgewaltig. 1523 führte Zürich die Reformation ein.
Das große Geschäft der Drucker mit der Reformation
Und damit war Christoph Froschauer ein gemachter Mann. Denn er genoss die volle Unterstützung der reformierten Stadtregierung, während der Buchmarkt boomte. Bücher der Reformatoren entwickelten sich zu Bestsellern, wie schon der Theologe Johann Eberlin von Günzburg im Jahr 1524 feststellte. Er schreibt (in modernes Deutsch übersetzt): „Die ganze Welt dreht sich um Kaufen und Verkaufen. ... Man nehme das Beispiel der Drucker und Verleger. Schau nur, wie wenig sich die Drucker ... darum kümmern, ob ein Thema böse oder gut, gut oder besser, angemessen oder ärgerlich ist. Sie publizieren Bücher, für die man sich schämen muss, Liebesromane und Spottlieder, was ihnen in die Hand fällt und dem Geldbeutel zuträglich ist. ... Jetzt sind sie auf die lutherischen Bücher verfallen, auf die Heilige Schrift, aber nur wegen ihres Einkommens. So muss sogar Gottes Wort ihrer teuflischen Gier dienen. ... Wenn die evangelischen Bücher sich nicht mehr verkaufen, werden sie wieder päpstliche drucken.“
Zwingli hatte Froschauer mit der Herstellung seiner deutschen Bibel beauftragt und ihn so quasi zum halboffiziellen Drucker des Zürcher Rats gemacht. Dieser Auftrag brachte dem Verleger ein Vermögen. Viele wohlhabende Hausväter erwarben für 3,5 Gulden ihr erstes Buch. Nicht nur in Zürich. Zweimal im Jahr verkaufte Froschauer seine Drucke auf der Frankfurter Buchmesse, die von Händlern aus dem ganzen deutschsprachigen Raum besucht wurde.
Um mehr Leser und damit zahlende Kunden zu erreichen, ließ der geschäftstüchtige Verleger die Texte aus dem Zürcher Idiom in die neuhochdeutsche Sprache zu übersetzen. Das brachte Zwinglis Thesen mehr Aufmerksamkeit und ihm mehr Kunden. Dass Froschauer dabei mehr Geschäftsmann als religiöser Eiferer war, sieht man an der Tatsache, dass er Druckaufträge abgab, mit denen er die katholische Seite besonders verärgert hätte.
Nutznießer der Reformation
Christoph Froschauer - der kleine Druckergeselle aus Niederbayern wurde durch die Reformation zum reichen Unternehmer. Er erweiterte sein Druck- und Verlagsgeschäft inklusive Vertrieb um eine Papiermühle. Außerdem unterhielt er eine Buchbinderei. Es hatte sich herausgestellt, dass diejenigen, die „nur“ eine Bibel kauften, keine Verbindung zu lokalen Buchbindern hatten und deshalb lieber ein bereits gebundenes Exemplar erwarben.
Die Expansion gelang auch dank der Vorzugskonditionen, die Froschauer als regierungsnaher Unternehmer erhielt. So mietete er Räume im ehemaligen Barfüßerkloster, um dort seine vier Pressen aufzustellen, bis er sich ein großes Anwesen an der heutigen Froschaugasse kaufte, in dem vor der Reformation zwei Dutzend Nonnen Unterkunft gefunden hatten.
Die Kappeler Schlacht
Und dann machte die Kappeler Schlacht am 11. Oktober 1531 dem schönen Geschäft ein Ende. Zürichs Angriffskrieg scheiterte kläglich. Außer Zwingli starben 26 Mitglieder des kleinen und des großen Rates, 25 Geistliche und ungefähr 400 Bürger. Dass Christoph Froschauer nicht unter ihnen war, verdankte er nur einem Zufall. Es hatte in seiner Papierfabrik am Vortag einen Wasserschaden gegeben, den der Chef beurteilen sollte. Froschauer bat um Urlaub, war während der Schlacht in Zürich und kam deshalb mit dem Leben davon.
Nach der Kappeler Schlacht brach die Zürcher Wirtschaft erst einmal zusammen. Froschauer wandte sich an den Rat: "Ich habe viele Angestellte und wenig Druckaufträge. Darum bitte ich um eure Hilfe und euren Rat, damit ich zu arbeiten habe." Die Stadtväter taten, was möglich war, aber allein vom Druck der offiziellen Mandate konnte Froschauer nicht leben. So suchte er sich ein neues Geschäftsfeld. Er gab die reformatorischen Bücher auf und konzentrierte sich auf Drucke, die Wissenschaftler aller Konfessionen interessierten. Und damit kommen wir zu Conrad Gessner, einem seiner wichtigsten Autoren.
Der mittellose Sohn eines Kürschners
Auch der am 26. März 1516 geborene Conrad Gessner stammte nicht aus reichem Hause. Sein Vater war Kürschner, bearbeitete also Felle und verdiente so wenig, dass er es sich nicht leisten konnte, alle ihm geborenen Kinder durchzufüttern. Deshalb übergab er den 5-jährigen Conrad dem Großonkel seiner Gattin. Das war früher nicht unüblich. Johannes Frick, Kaplan am Zürcher Großmünster, hatte die Mittel und die Verbindungen, dem Kleinen eine ordentliche Ausbildung zukommen zu lassen. Das wäre auch kein Problem gewesen: Conrad war klug, gelehrig, durchaus gläubig und die Zürcher Reformatoren förderten vielversprechende junge Männer großzügig, wenn sie die geistliche Karriere ergriffen. Doch die Schlacht von Kappel machte auch Conrad Gessener einen Strich durch die Rechnung. Das bereits bewilligte Stipendium wurde nur sporadisch gezahlt. So brachte sich der Jugendliche auf eigene Faust in Straßburg, Bourges und Paris durch. Er las, was ihm unter die Finger kam, schloss unter seinen Kommilitonen Freundschaften fürs Leben und machte mit 19 Jahren den größten Fehler seines Lebens: er heiratete.
Eine Heirat und ihre Folgen
Damit verstieß er gegen ein ungeschriebenes Gesetz der Zürcher Geistlichkeit. Man heiratete nicht, ohne dass die eigene Existenz durch eine Pfründe gesichert und die Erlaubnis der Herren Vorgesetzen eingeholt war! Vor allem dann nicht, wenn man sowieso ein schlechtes Gewissen haben sollte. Zürich zahlte Stipendien, um Theologen für das Kirchenamt auszubilden. Auch wenn Gessner gläubig war, fühlte er sich nicht zum Geistlichen berufen, sondern interessierte sich mehr für die Naturwissenschaften. Einige Jahrzehnte später wurde für Fälle wie ihn die Regel eingeführt, dass bei einem Studienwechsel das Stipendium mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden musste. Das blieb Conrad Gessner erspart. Er hätte es sich auch nicht leisten können. Denn nachdem er 1541 in Basel promoviert wurde, löste eine schlecht bezahlte Stelle die nächste ab. Und damit sind wir wieder bei Christoph Froschauer.
Ein vielversprechendes Geschäftsmodel
Der konzentrierte sich - wir haben es erzählt - auf neue Produkte, die für alle Humanisten interessant waren, gleich ob sie an die Thesen von Luther, Zwingli, Calvin oder der katholischen Kirche glaubten. Aber dieser Markt verlangte nach ganz bestimmten Manuskripten, +von denen es viel zu wenige gab.
Conrad Gessner brauchte Geld. Froschauer brauchte Manuskripte. So kam es zu einem Handel, der für die damalige Zeit völlig ungewöhnlich war: Froschauer entlohnte den Autor!
Wir wissen das, weil Conrad Gessner 1558 über Froschauers Bezahlung an Heinrich Bullinger schrieb: „Wer hätte mich und die Meinigen erhalten, da ich eine Besoldung von nur 30 Gulden jährlich erhielt? Woher hätte ich mir ein Haus gekauft, wie hätte ich meine Verwandten, wie meine Neffen und Nichten, wie meine teure, geliebte Mutter unterstützen können?“
Aber auch für Christoph Froschauer zahlte sich die Zusammenarbeit aus. Er hinterließ bei seinem Tod ein Bücherimperium mit Druckerei, Verlag, Vertrieb, Buchbinderei, Schlosserei, Tischlerei, dazu Wohnhaus, Garten, Werkzeug und Vorräte im geschätzten Wert von 10.665 Gulden - im Jahr 1564 ein immenses Vermögen!
Mithridates
Die Zusammenarbeit war nicht nur finanziell einträglich, sondern auch ein Gewinn für die Wissenschaft. Wir stellen heute das Buch vor, das am Beginn der vergleichenden Sprachwissenschaft seht: 1555 erschien Conrad Gessners Mithridates sive de differentiis linguarum tum veterum tum quae hodie apud diversas nationes in usu sunt - in Übersetzung: Mithridates oder über die Unterschiede der Sprachen, sowohl der alten als auch derer, die heute bei den verschiedenen Nationen in Gebrauch sind.
Der Mithridates wurde zu einem Meilenstein hinsichtlich Titels, Methodik und Vielsprachigkeit.
Beginnen wir mit dem Titel: Warum benannte ein Zürcher Gelehrter ein Buch über Sprachen ausgerechnet nach einem lange schon verstorbenen Herrscher, der ein Gebiet am Ende der damals bekannten Welt kontrollierte? Nun, Mithridates VI. von Pontos lebte von 132 bis 63 v. Chr. Er ging in die Geschichte als letzter ernsthafter Konkurrent der Römer ein. Er kämpfte mehrere Jahrzehnte mit dem römischen Senat um die Vorherrschaft über Kleinasien. Wesentlich wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber etwas anderes. Während die Römer alle Untergebenen zwangen, das Lateinische zu lernen, überliefert Plinius der Ältere, dass Mithridates sich an seine Untertanen in ihrer eigenen Sprache wandte. Gessner schreibt (übersetzt aus dem Lateinischen): „Dass Mithridates, der König von Pontos, als einziger Sterblicher zweiundzwanzig Sprachen gesprochen hat, ist sicher, und von den unterworfenen Völkern ist kein einziger Mensch jemals durch einen Übersetzer von ihm angesprochen worden in den sechsundfünfzig Jahren, die er geherrscht hat.“
Und damit sind wir beim politischen Brennstoff, den diese Untersuchung bot. Während die römische Kirche – als Nachfolger des römischen Senats – immer noch auf die lateinische Sprache setzte, schrieben die meisten Reformierten in der Landessprache. Mit seinem Vergleich der verschiedenen Sprachen stellte Gessner das Deutsche auf dieselbe Stufe wie das Lateinische. Es sollte noch lange dauern, bis die Gleichrangigkeit zwischen Nationalsprache und dem Lateinischen allgemein anerkannt war.
Werfen wir noch einen Blick auf Gessners Methodik. Er vergleicht die verschiedenen Sprachen anhand des Vater Unsers, ein Verfahren, das heute als wenig zielführend gilt. Uns fasziniert die unterschiedliche Denkweise, die mittels verschiedener Sprachen transportiert wird. Gessner konzentrierte sich ausschließlich auf die Worte – selbst die Grammatik spielt kaum eine Rolle.
Der Mithridates spiegelt darüber hinaus den Eurozentrismus des 16. Jahrhunderts. Während Gessner in Europa mehr als die 72 postulierten Sprachen der Genesis (Gen 11,1-9) identifiziert, existieren für ihn die Sprachen von Asien nur in Ansätzen, Afrika wird völlig übergangen und die neue Welt der beiden Amerikas auf zwei Seiten abgehandelt.
Immerhin ein Anfang war gemacht. In der nächsten Folge von Bookophile beschäftigen wir uns mit einem weiteren Werk des Erfolgsduos Froschauer / Gessner, dem berühmten Thierbuch. Allerdings in einer wesentlich späteren und gekürzten Ausgabe.