Charles Darwin und die Evolutionstheorie: Der Stärkere überlebt
Charles Darwins Theorien zur Evolution legten die Grundlagen für unser heutiges Weltbild. Durch seine Hypothese, dass die Natur selbst eine natürliche Auslese vornimmt und so neue Arten schafft, wurde jegliches Eingreifen Gottes überflüssig. Für uns ist das schon längst kein Skandal mehr. Zur Zeit Darwins aber veränderte es den Blick auf die Welt.
2022 ist es dem MoneyMuseum Zürich gelungen, im Berner Antiquariat Daniel Thierstein das Werk eines Autors zu erwerben, der unser Weltbild nachhaltig geprägt hat: Charles Darwin. Mit seinem Namen verbinden wir die Evolutionstheorie und die natürliche Auslese. Aber was versteht man darunter? Und was hat der Ökonom und Demograph Thomas Robert Malthus mit Darwins Thesen zu tun?
Artikeltext:
Die Zucht: Neue Tierarten für eine neue Zeit
Der am 12. Februar 1809 geborene Charles Darwin lebte in einer Welt im Umbruch: Kleine Manufakturen wurden zu großen Fabriken; viele Menschen verließen ihr Dorf und suchten sich eine Arbeit in der Stadt; sie vermehrten die städtische Bevölkerung, die ihre Nahrung nicht mehr selbst produzierte, sondern kaufte. Um wirtschaftlich zu prosperieren, benötigten die Städte also eine gesicherte Nahrungsmittelversorgung, die eine traditionelle Landwirtschaft nicht mehr bieten konnte.
Deshalb brauchte es neue, effizientere Anbaumethoden, neue, ertragreichere Getreidesorten und vor allem neue, an die Bedürfnisse angepasste Tierarten. Sie lieferten, ganz nach Wunsch, mehr Fleisch, mehr Milch oder mehr Wolle. Sie zu züchten, entwickelte sich vor allem in England zu einem Hobby der reichen Gentry, einer neuen Schicht von Landbesitzern, die ihren Stand nicht dem Erbadel, sondern ihrem Vermögen verdankten. Der Vater von Charles Darwin gehörte dazu. Die Großväter waren väterlicherseits ein berühmter Naturwissenschaftler, mütterlicherseits der reiche Keramikfabrikant Josiah Wedgwood. Und so dürfte der kleine, an den Naturwissenschaften überaus interessierte Charles Darwin bereits in frühester Kindheit gelernt haben, wie man systematisch Tiere für die Zucht auswählt, die genau die Eigenschaften aufweisen, die man in einer neuen Art weiterentwickeln möchte.
Die Reise mit der HMS Beagle
Für Charles Darwin bedeutete das familiäre Vermögen aber noch mehr. Ihm stand die ganze Welt offen. Erst bezahlte die Familie ein Medizinstudium in Edinburgh. Als er das abbrach, finanzierte sie sein Theologiestudium in Cambridge. Und als der junge Charles so gar keine Neigung für den Priesterberuf zeigte, brachte der Vater das Geld auf, ihm die Reise seines Lebens zu ermöglichen.
Charles Darwin hatte sich nämlich von frühester Jugend an für die Natur in all ihren Erscheinungsformen interessiert. Er trieb sich stundenlang im Gebirge herum, um zu verstehen, wie die Gesteinsformationen entstanden waren; er botanisierte und zeichnete Vögel, Insekten und Säugetiere. Er träumte davon, die Natur anderer Länder zu entdecken, und als sich ihm die Möglichkeit bot, auf der HMS Beagle nach Patagonien und Feuerland zu fahren, ergriff er sie.
Diese Reise mit der Beagle in den Jahren zwischen 1831 und 1836 wurde für Charles Darwin zu einem Schlüsselerlebnis. Mehr noch: Sie machte den aufgeweckten und fleißigen Forscher mit einem Schlag in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt. Denn Darwin beschrieb in zahlreichen Briefen nicht nur, was er auf der Reise sah, sondern er bot gleichzeitig diskussionswürdige Deutungen. Seine Freunde publizierten die Briefe, und so warteten die Mitglieder der Royal Geographic Society bereits ungeduldig auf die Rückkehr des begabten Forschers, als die Beagle wieder nach England zurückkehrte.
Eine andere Welt
Man kann die Bedeutung dieser Reise für die Evolutionstheorie nicht überschätzen. In den knapp fünf Jahren sammelte Darwin gewaltige Mengen an Material. Einiges passte zu dem, was er bisher gelernt hatte, anderes stellte ihn vor offene Fragen. Wie war das zum Beispiel mit diesen Fossilien, die er im Muschelkalk entdeckte? Wir war das mit den Schildkröten der Galapagos-Inseln? Ihre Panzer unterschieden sie so deutlich, dass die Einheimischen sofort wussten, von welcher Insel eine Schildkröte kam.
Als Charles Darwin nach England zurückkehrte, lagerten im Bauch der Beagle 1.529 in Spiritus konservierte Arten und 3.907 nummerierte Komplexe von Häuten, Fellen, Knochen und Pflanzen, die in England mehr oder minder unbekannt waren. Sie zu katalogisieren und zu publizieren, beschäftigte Charles Darwin in den folgenden Jahren.
Arten verändern sich
Für seinen Katalog griff Charles Darwin auf eine Methode zurück, die seit Carl von Linné weltweit benutzt wurde, um Pflanzen und Tiere eindeutig zu beschreiben. Linné hatte eine Gliederung der gesamten belebten Welt versucht, die jedes Individuum einer Art resp. Species, Gattung und Familie zuordnet. Seit Linné ist eine Hauskatze nicht mehr nur eine Katze, sondern felis catus aus der Gattung der echten Katzen, aus der Familie der Katzen und der Ordnung der Raubtiere. Um ein Individuum in diese Ordnung einzupassen, muss man es mit vielen anderen Individuen vergleichen und dabei überprüfen, ob es alle artspezifischen Merkmale aufweist.
Für Charles Darwin bedeutete das, dass er vor jedem Katalogeintrag entscheiden musste, ob das ihm vorliegende Exemplar zu einer bereits bekannten oder zu einer neuen Art gehörte. Das Problem daran war, dass Darwin häufig nur sehr wenig Vergleichsmaterial zur Verfügung stand. Deshalb stellte sich ihm ständig die Frage, ob ein Exemplar, das einem anderen ähnelte, aber nicht glich, einfach individuelle Abweichungen zeigte - die Zoologie spricht in einem solchen Fall von einer Varietät oder einer Abart -, oder ob diese Abweichungen so eklatant waren, dass eine neue Art vorlag.
Diese Arbeit sensibilisierte Darwin für die unglaubliche Variationsbreite innerhalb einzelner Arten und für die Tatsache, dass Arten häufig geographisch und zeitlich gebunden waren. Er sah, dass in voneinander isolierten Räumen eng miteinander verwandte Arten lebten. Gleichzeitig wiesen Fossilien große Ähnlichkeiten zu noch lebenden Tierarten auf.
Diese Beobachtung wurde durch die Zusammenarbeit mit anderen Forschern bestätigt. So bestimmte der international bekannten Ornithologen John Gould die von Darwin von den Galapagosinseln mitgebrachten 31 Vogelbälge. Er stellte fest, dass es sich teilweise nicht um verschiedene, sondern um eng miteinander verwandte Arten handelte. Die Zoologie nennt eine von ihm beschriebene Gruppe von Vögeln heute Darwinfinken.
Darwin dürfte damals der Gedanke gekommen sein, dass Arten nicht nur in den Ställen der englischen Gentry entstanden, sondern auch in Gegenden, in die noch kein Mensch seinen Fuß gesetzt hatte. Er begriff, dass sich alle Lebewesen verändern können. Wir sprechen in diesem Zusammenhang heute von Evolution nach dem lateinischen Verb evolvere = entwickeln; Charles Darwin bevorzugte den Begriff transmutation = Umwandlung.
Aber wie, fragte sich Darwin, kam diese Veränderung zustande? Schließlich gab es auf den Galapagosinseln keinen Züchter, der systematisch bestimmte Finken mit den ganz besonderen Eigenschaften zur Zucht auswählte.
Eine interdisziplinäre Anregung
Über diese Frage grübelte Charles Darwin lange, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Den Wendepunkt stellte seine Lektüre von Thomas Robert Malthus' Essay On the Principle of Population dar, wie er selbst in seiner Autobiographie schildert: "... [die Frage], wie Auswahl bei Organismen geschehen konnte, die in der Natur existierten, [also im Gegensatz zu einer künstlichen Auswahl durch Züchtung] blieb einige Zeit ein Mysterium für mich. Im Oktober 1838, also fünfzehn Monate, nachdem ich mit meiner systematischen Forschung begonnen hatte, las ich zufällig zu meiner Zerstreuung On Population von Malthus..."
Nun war Malthus alles andere als ein Naturwissenschaftler. Er war Ökonom und hatte sich mit der Armenfrage beschäftigt. Malthus wollte durch umfassende Statistiken nachweisen, dass eine systematische Unterstützung der Armen nur dazu führen würde, dass diese noch mehr Kinder bekommen und so noch größere Armut verursachen würden. Diese Aussage wurde für Charles Darwin zur kopernikanischen Wende. Vor seiner Lektüre ging er davon aus, dass die Natur nur so viele Individuen erzeugt, wie die Umgebung ernähren kann. Danach postulierte er in Anlehnung an Thomas Malthus, dass die Natur einen Überfluss an Leben schafft. Ob britische Slumbewohner, ob Tiere oder Pflanzen, sie alle wollen eine möglichst große Nachkommenschaft hinterlassen. Dadurch entsteht eine solche Menge an Individuen, dass nicht alle überleben können. Die Natur selbst greift hier ein, um überflüssige Individuen durch Hunger und Krankheit zu beseitigen.
Und das deutete Charles Darwin dahingehend, dass die gnadenlose Natur selbst zum Züchter wird. Ein Lebewesen, das Eigenschaften mitbringt, die ihm das Überleben in einer feindlichen Umgebung leichter machen, überlebt länger. So wird es älter und hat öfter die Möglichkeit, Nachwuchs zu zeugen. Seine Nachkommen tragen teilweise die besonders nützlichen Gene weiter. (Hier kommen die Mendelschen Regeln ins Spiel, aber die kannte Charles Darwin noch nicht.) Diejenigen, die diese Gene besitzen, überleben genau wie ihr Vorfahr länger und haben mehr Möglichkeiten, Nachwuchs zu zeugen. Der trägt nun seinerseits die Gene weiter, aber in höherer Konzentration. Dieser Vorgang wird wiederholt, bis eines Tages eine neue Art existiert, von der alle Individuen über diese Gene verfügen.
Charles Darwin formulierte seine Erkenntnis so: Bei der Lektüre von Malthus' unerbittlicher Arithmetik "verstand ich plötzlich, dass unter solchen Umständen angepasste Varietäten dazu neigten erhalten zu bleiben, während unangepasste untergehen mussten. Dies musste zur Ausformung von neuen Arten führen. Und damit hatte ich endlich eine Theorie aufgestellt, mit der ich arbeiten konnte."
Skandalöse Ideen!
Darwin behauptet in seiner Autobiographie, Mitte 1837 von der Evolution, dem Wandel der Arten überzeugt, 1838 mit Hilfe von Malthus den entscheidenden Durchbruch hinsichtlich der natürlichen Zuchtauswahl geschafft zu haben. Publiziert hat er seine Ideen nicht. Er schrieb stattdessen geologische Arbeiten zu den Korallenriffen (1842) und den Vulkanen (1844).
Das ist bemerkenswert. Darwins Meinung zählte in der wissenschaftlichen Welt Großbritanniens. Trotzdem wagte er es nicht, die Bombe platzen zu lassen. Stattdessen verfasste er einen 230-seitigen Essay über seine Gedanken. Auch wenn er mit seinen Freunden über das Thema gesprochen haben mag, durfte mit Ausnahme seiner Frau Emma niemand den Text lesen. Darwin scheint sich nicht einmal sicher gewesen zu sein, ob er ihn zu seinen Lebzeiten publizieren würde, denn er übertrug Emma die Aufgabe, dies nach seinem Tod nachzuholen.
Warum aber zögerte Darwin, seine Ergebnisse zu veröffentlichen? Um das zu verstehen, müssen wir in die politische Diskussion der damaligen Zeit einsteigen.
Der Kirchenkampf
Hatten die Aufklärer schon seit Jahrhunderten gefordert, die Religion ins Museum zu befördern, stand die Mehrheit der Bevölkerung diesen Thesen mehr als skeptisch gegenüber. Die Französische Revolution veränderte die Einstellung der westlichen Regierungen nicht zum Glauben, aber zur Kirche. Sie begriffen, wie nützlich es wäre, die finanziellen Mittel der Kirche in die Finger zu bekommen, um sie aus der Armenfürsorge zu verdrängen und die Bildung der neuen Generationen selbst zu übernehmen. Da aber eine breite Mehrheit der Bevölkerung am Glauben festhielt und sich einen Glauben ohne Amtskirche nicht vorstellen konnte, entstand in ganz Europa eine gesellschaftliche Diskussion. Welche Rolle sollte die Kirche in Zukunft spielen? In Deutschland hat diese Auseinandersetzung den Namen Kirchenkampf erhalten. Darwins Thesen fielen also nicht in den luftleeren Raum, sondern wurden auf dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung gelesen.
Die Evolution stieß dabei auf wenig Widerstand. Jeder sah, dass sich Arten veränderten. Während die Gentry mit Rind und Schwein experimentierte, gab es in den Städten Kaninchen- und Hundezuchtvereine. Sich verändernde Arten waren zu diesem Zeitpunkt also nichts mehr, worüber sich ein gläubiger Christ aufgeregt hätte.
Doch die Natur als gnadenloser Züchter, der einen Überfluss an Individuen schafft, um sie dann in der Arena des Lebens um ihre Existenz kämpfen zu lassen, das war nicht mit der Idee eines gütigen Gottes vereinbar. Charles Darwin hatte das verstanden. Er wusste, welchen Sprengstoff seine Thesen beinhalteten und hatte deshalb einen guten Grund, sie nicht voreilig zur Diskussion zu stellen.
On the Origin of Species
Wir werden in einem anderen Beitrag erzählen, wie es dann doch zur öffentlichen Präsentation von Darwins Thesen am 1. Juli des Jahres 1858 kam. Der Sturm der Empörung blieb aus, so dass Charles Darwin es wagte, sein gesammeltes Material im folgenden Jahr zu publizieren. Das Buch hieß On the Origin of Species by Means of Natural Selectrion, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life. Die 1.250 Exemplare der Erstauflage, die am 24. November in Handel kamen, waren am selben Tag ausverkauft. Seitdem wurde diese so entscheidende Abhandlung immer wieder übersetzt und aufgelegt.
Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist die Tatsache, dass es tatsächlich die Basis für unser modernes Weltverständnis legte, das seitdem durch viele weitergehende Forschungen in Details bestätigt wurde.
Es enthielt fünf wesentliche Thesen, die zu Darwins Zeiten reine Postulate darstellten:
1.) Die Arten verändern sich, was wir heute als Evolution bezeichnen
2.) Alle Lebewesen haben einen gemeinsamen Ursprung
3.) Die Veränderung der Arten erfolgt in winzig kleinen Schritten
4.) Innerhalb einer Population können unterschiedliche Arten entstehen
5.) Die natürliche Selektion ist der wichtigste, aber nicht der einzige Mechanismus der Evolution
Darwinismus und Kreationismus
Während die Evolution selbst schnell Anerkennung fand, blieb die natürliche Auslese noch lange nach Darwins Tod umstritten, was dessen Verehrung keinen Abbruch tat. Darwin wurde unter weltweiter Anteilnahme zu Füßen von Sir Isaac Newton in der Westminster Abbey beigesetzt.
Heute empfinden wir Darwins Theorie als einzig vertretbare Wahrheit, auch wenn sie von einigen Gruppen vehement bestritten wird. Denn Darwins Weltbild stellt die Güte und die Allmacht Gottes in Frage, und so kann es nicht verwundern, dass Darwins schärfste Kritiker nicht aus Judentum, Christentum oder Islam kommen, sondern dass es die orthodoxen Gläubigen aller drei Religionen sind, die Darwin ablehnen und sich stattdessen zum Kreationismus bekennen.
On the Origin of Species ist in vielen Ausgaben im Internet verfügbar. Hier finden Sie die allererste Ausgabe von 1859 und die erste Übersetzung ins Deutsche.
Noch wesentlich mehr Material finden Sie auf Darwin Online, das alle seine Publikationen und Manuskripte einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellt.
Auf Youtube gibt es eine Dokumentation zur Reise auf der Beagle. Dass selbst so eine harmlose Dokumentation Anlass zu religiösen Auseinandersetzungen geben kann, zeigen Kommentare dazu wie „Gott“ sei Dank wissen wir seit Darwin, dass es keinen Gott gibt. (Was wir selbstverständlich nicht wissen. Darwin war Agnostiker nicht Atheist.) oder Es gibt keine größere Sünde als seinen eigenen Schöpfer zu verleugnen. (Was Darwin übrigens auch nicht dezidiert getan hat; schon um seine Frau nicht zu verletzen, die tief gläubig blieb.)