Ich gebe es zu: Mir erschließt sich nicht immer sofort, warum dieses oder jenes Buch besonders bedeutend, interessant oder wertvoll sein soll. Es kommt eben vor, dass sich dieses bestimmte Stückchen (Literatur-)Geschichte außerhalb des eigenen Bildungshorizonts befindet. Umso befriedigender ist es, wenn man sich der Sache annimmt und mit ein bisschen Beharrlichkeit immens spannende Lesespuren findet. Genau so erging es mir mit einem Buch aus der Sammlung des MoneyMuseums, das ich Ihnen heute vorstellen möchte.
Anfangs hatte ich lediglich eine französische Nacherzählung einer alten Rittersage aus dem karolingischen Sagenkreis vor mir liegen, mit der ich herzlich wenig anfangen konnte. Die Handlung der Geschichte war unfassbar lang und kompliziert, die Pointe nicht gerade offensichtlich. Dann stieß ich auf Bilder einer Bronzestatue der vier sagenhaften Ritterssöhne, die in Köln unweit meiner alten Schule steht und an der ich früher unzählige Male vorbeigekommen sein muss. Ich forschte weiter und fand heraus, dass es mehrere sich überschneidende Rittersagen und Heiligenlegenden gibt, die alle in meiner Heimatstadt Köln zusammenlaufen – sogar im Kloster St. Pantaleon, in dem ich getauft wurde. Wie aus dem französischen Ritter Reinoldus der Heilige Reinhold von Köln wurde, erfahren Sie jetzt im Schnelldurchlauf.
Artikeltext:
Was es mit den Haimonskindern auf sich hat
Die Haimonsage ist eine bekannte altfranzösische Rittersage. Im Mittelalter wurden diese chansons de geste oder Heldenlieder, wie der Name bereits sagt, mündlich tradiert und von Spielleuten mit musikalischer Begleitung vorgetragen. Die uns vorliegende Ausgabe ist eine viel später entstandene gedruckte Nacherzählung dieser Sage. Das genaue Datum ist zwar nicht bekannt, es dürfte aber im späteren 18. oder frühen 19. Jahrhundert liegen.
Im Zentrum der Sage steht der Konflikt zwischen Karl dem Großen und einem seiner Vasallen, dem Grafen Haimon von der Dordogne, beziehungsweise seinen vier Söhnen Adelhard, Ritsart, Witsard und Reinoldus von Montalban. Im Grunde genommen geht es um die Zentralisierungsbestrebungen des Kaisers und den Widerstand, den einige karolingische Adelsfamilien dagegen leisteten. Dieser Konflikt wird nun in einer wirklich sehr ausführlichen Sage ausgestaltet, die sich über Jahre und Jahre zieht: Es gibt Magier und Zauberpferde, es wird verraten und betrogen, es werden Wein und Schinken mit Katapulten auf eine belagerte Burg geschossen, um die dort Eingesperrten vor dem Hungertod zu bewahren, und am Ende dieser zähen Auseinandersetzung schließen Charlemagne und Reinoldus, der stärkste und prominenteste der vier Rittersöhne, dann doch Frieden. Reinoldus muss lediglich versprechen, sich auf Pilgerreise zu begeben, um seinen Aufstand gegen den Kaiser zu sühnen, und das Zauberpferd Bayard wieder herausgeben. (Woraufhin Karl versucht, das Pferd in einem Fluss zu ertränken – aus welchen Beweggründen ist mir immer noch schleierhaft!) Die Sage endet also vorerst mit der Reue der aufständischen Adelsfamilie und der erneuten Unterordnung der Vasallen unter ihren Kaiser.
Der Heilige Rheinhold von Köln
Wie kommt jetzt aber die Bronzestatue der vier Haimonskinder nach Köln? Nun, es gibt verschiedene Versionen der Geschichte. Eine lautet etwa so: Nachdem Reinoldus nach Jerusalem gepilgert ist und sich im Kampf gegen die Heiden verdient gemacht hat, geht er nach Köln, um am Bau des Hildebold-Doms zu helfen, der Vorgängerversion des Kölner Doms. Der gute Mann, der inzwischen sehr fromm geworden ist, verzichtet auf Bezahlung und verlangt lediglich Kost und Logis sowie den Dank Gottes. Als Streber, der Tag und Nacht ohne Unterlass schuftet und das auch noch ohne Bezahlung, macht er sich bei seinen Kollegen reichlich unbeliebt, bis die ihn eines Nachts erschlagen und in den Rhein werfen.
Auch davon, was danach geschieht, gibt es verschiedene Versionen. Eine blinde Frau hat eine Offenbarung und birgt den Leichnam aus dem Fluss. Und/oder es beginnen gleichzeitig alle Glocken der Bischofsstadt Köln zu läuten. Und/oder Reinoldus’ Leichnam wird von Fischen getragen und von Engeln umschwärmt. Man einigte sich auf jeden Fall darauf, dass der Mann heilig sei, auch wenn er nie offiziell kanonisiert wurde. Bis heute wusste ich nicht, dass es einen Heiligen Rheinhold von Köln gibt, der immerhin im Nordportal des Kölner Doms in Stein verewigt ist. Wenn ich das nächste Mal dort bin, werde ich die Augen offenhalten.
Stadtpatron von Dortmund
Der beste Teil der Geschichte kommt allerdings ganz zum Schluss: Wie eine Legende überliefert, versuchte man in Köln vergeblich, den Leichnam des Reinoldus oder Rheinhold zu begraben. Der Karren setzte sich von alleine in Bewegung und rollte fort, bis er ausgerechnet in Dortmund stehen blieb. Wo man ihm an Ort und Stelle eine Kirche baute und ihn zum Schutzpatron der Stadt ernannte. Auf dem Bild oben sehen wir den Kopf der Reinoldusstatue in der Reinoldikirche in Dortmund.
Dass es sich bei all diesen Geschichten wirklich um denselben historischen Reinhold handelt, ist unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist es, dass hier mindestens drei Legenden miteinander vermengt wurden: eine deutsche Fassung der Haimonsage, eine französische sowie eine Heiligenlegende des Kölner Märtyrers Rheinhold, der als Mönch im Kloster St. Pantaleon lebte. St. Pantaleon, eine der ältesten romanischen Kirchen der Stadt, steht übrigens bis heute noch und ist zufällig auch die Kirche, in der ich getauft wurde. Manchmal lohnt es sich also, der Geschichte eines Buchs auf den Grund zu gehen – man findet bisweilen Spuren, die bis in die eigene Lebensgeschichte reichen.
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Eine kommentierte französische Ausgabe des Texts La Chanson des quatre fils Aymon können Sie auf Wikisource einsehen.
Mehr über den Heiligen Reinhold von Köln können Sie im Ökumenischen Heiligenlexikon nachlesen.
Wenn Sie sich Sage vorlesen lassen möchten, können Sie Die Haimonskinder auf Audible ein Hörbuch erwerben.