Im Jahr 1953 publizierte die Manesse Bibliothek der Weltliteratur Chaka Zulu, die deutsche Übersetzung des Romans Chaka, den der Basotho Thomas Mokopu Mofolo 1926 in seiner Muttersprache Sesotho verfasst hatte. Für diese Zeit war das ein unglaubliches Zeugnis der Toleranz, ein Beweis, dass man es in Zürich ernst meinte, wenn man von einer Bibliothek der Weltliteratur sprach. Man denke: 1953 war die Gleichberechtigung von Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben noch Zukunftsmusik. Die Dekolonisierung Afrikas hatte gerade erst begonnen; der Busboykott von Montgomery fand erst zwei Jahre später statt; ganz zu schweigen von Mofolos Heimat Südafrika, wo es noch 40 Jahre dauern sollte, bis seine Nachkommen dieselben Rechte erhielten wie die weißen Einwanderer. Auch wenn also Kommentar und Übersetzung von Chaka Zulu systematisch das N-Wort benutzen, ist dies nicht als ein Zeichen der Intoleranz zu verstehen, sondern als damals übliche Wortwahl in einem Buch, das ein Zeichen der Achtung gegenüber einem bis dahin im deutschsprachigen Raum weithin unbekannten Werk der Weltliteratur ist.
Tatsächlich ist die Geschichte, die Thomas Mokopu Mofolo erzählt, alles andere als ein idyllischer Roman über den edlen Eingeborenen. Stattdessen geht es um ein Problem, das so alt und so weit verbreitet ist wie die Menschheit selbst. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie viel ein Mensch für die Macht aufzugeben bereit ist.
Held der Geschichte ist eine historische Gestalt. Der um 1787 geborene Shaka ka Senzangakhona herrschte von 1816 bis 1828 über die Zulu. Unter ihm stieg der bis dahin unbedeutende Stamm zur entscheidenden Macht Südafrikas auf. Grund dafür war Shakas wohlüberlegte Grausamkeit. Er wandte eine bis dahin unbekannte Taktik an. Vor Shaka war der Kampf zwischen südafrikanischen Völkern stark ritualisiert. Es gab nur wenige Todesopfer, bis eine Entscheidung gefallen war. Shaka dagegen setzte auf die Massenvernichtung seiner Feinde und ihrer Familien. Man sagt, dass seine Soldaten während der Eroberungszüge bis zu einer Million Menschen getötet haben sollen. Noch heute wird diese Epoche als Mfecane bezeichnet, ein Begriff aus der Sprache der Zulu, der mit Zerquetschung, Zerstreuung übersetzt wird. Ja, mancher moderne Historiker behauptet sogar, es sei dieser Verlust an Menschenleben gewesen, der den Briten und Buren die spätere Besiedlung des Landes erleichtert habe.
Thomas Mofolo war kein Zulu. Er gehörte zur Nation der Basotho, die vor Shaka und seinen Kriegern hatten fliehen müssen. Seine Vorfahren waren also nicht nur Opfer der Engländer resp. der Buren, sondern auch der Zulu. Mofolo selbst hatte diese Kriege nicht mehr miterlebt. Er wurde in einem befriedeten Land geboren, nahm das Christentum an und erhielt in einer Missionsstation eine westliche Ausbildung.
Doch die Gestalt von Shaka muss Thomas Mofolo beschäftigt haben. Er kannte die mündliche Überlieferung über den Herrscher, mit der in Südafrika Geschichtenerzähler die Vergangenheit festhielten. Mofolo sammelte systematisch ihr Wissen, um es zu einem Roman nach westlichem Vorbild umzuformen.
Mofolo gestaltete einen brillanten Entwicklungsroman. Der Leser begleitet den Schlächter Südafrikas von frühester Jugend an, als sich der uneheliche und unerwünschte Chaka – wie Shaka in Mofolos Werk heißt – gegen die Grausamkeiten seiner Altersgenossen zur Wehr setzt und so stark wird und Kampfeserfahrung sammelt. Chaka findet zwar eine neue Heimat, und er gewinnt die Liebe einer wunderbaren Frau, aber es ist zu spät. Geradezu zwanghaft muss er einen Gegner nach dem anderen ausschalten, damit diese sich nicht gegen ihn verbünden.
Er gewinnt dafür die Unterstützung eines mächtigen Zauberers. Ihm verdankt er den Erfolg, doch für jede neue Stufe der Macht fordert er von Chaka ein immer größeres Opfer. Und so gewinnt Chaka die Herrschaft, indem er all sein privates Glück verliert. Der Roman gipfelt darin, dass Chaka im Tausch gegen den ultimativen Talisman seine geliebte Frau mit eigenen Händen ermordet.
Und so ist der öffentliche Erfolg mit dem privaten Unglück verbunden. Das Ende ist vorherzusehen: Chaka verliert allen Rückhalt in seiner Familie. Seine eigenen Brüder lauern ihm auf und töten ihn.
Auch wenn eine moderne Karriere natürlich keine Todesopfer fordert, sind die Fragen, die Mofolo stellt, dennoch überaus modern: Wenn einer die Macht ergreift, wie ist das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Erfolg? Welche Opfer kostet der Aufstieg? Wer muss sie bringen? Und ist der Aufstieg an die Spitze möglich, obwohl man moralisch verantwortlich agiert?
Thomas Mofolo sagt nein. Er verurteilt Chakas Handeln. Warum er das tut, darüber streiten sich die Literaturwissenschaftler. Beruht sein Urteil auf seinen persönlichen Werten und den Werten seines Volkes? Oder hat er als Zögling einer Missionsstation christliche Werte verinnerlicht? Wir wissen es nicht. Was uns dieser Roman aber lehrt, ist die Tatsache, dass es arrogant wäre, Schuld ausschließlich bei Menschen einer Hautfarbe zu suchen. Solch eine Behauptung entmündigt alle anderen Menschen, die genauso die Fähigkeit besitzen, moralisch falsche Entscheidungen zu treffen und Böses zu tun.