Wer schreibt, bleibt. Und bleiben will jeder, sollte man meinen bei der Unmenge von Blogs, Tweets und sonstigen Social-Media-Posts. Früher musste man für diesen Weg zur Unsterblichkeit schon ein echter Schriftsteller sein. Sonst gab es nur noch eine Alternative, durch Schreiben im Gedächtnis zu bleiben: den Brief. (Eine nahezu ausgestorbene Kommunikationsform, an die sich die Älteren unter uns vielleicht noch erinnern.)
Neben den „echten“ Briefen, die meist erst nach dem Tod des Verfassers erschienen, erfreute sich ein spezielles Genre immer wieder großer Wertschätzung, der Kunstbrief. Diese Gattung lässt sich bei uns genau auf eine Person zurückführen: auf Gaius Plinius Secundus, genannt "der Jüngere" (um ihn nicht mit seinem gleichnamigen Onkel zu verwechseln). Warum dessen Werk im 17. Jahrhundert so beliebt war und was unsere Ausgabe durch Marcus Zuerius van Boxhorn auszeichnet, das ist eine nähere Betrachtung wert.
Artikeltext:
Boxhorn: kritischer Geist und Linguist
Unsere Ausgabe stammt von Marcus Zuerius van Boxhorn (1612 oder 1602 bis 1653), einem niederländischen Gelehrten, der sich durch zwei Charakterzüge hervortat: seinen kritischen Geist gegenüber Traditionen und seinen immensen Publikationsausstoß, der ihn so in Anspruch nahm, dass er sich seine eigene Karriere dadurch blockierte. Boxhorn muss nahezu ununterbrochen geschrieben haben, wenn man die Liste seiner Werke überfliegt. Kurioserweise finden sich darunter nahezu sämtliche Klassiker der antiken lateinischen Literatur, obwohl er eigentlich Linguist war und sein Lebenswerk auch auf diesem Gebiet entstand. Boxhorn hielt als gepflegter Humanist nicht viel von althergebrachtem Denken, das sich nur auf die christliche Überlieferung stützte. Die Vorstellung, alle Sprachen gingen auf das Hebräische zurück, wies er daher von sich und begründete eine Theorie, die spätere Linguisten anerkennen und ausbauen sollte: Boxhorn erkannte die Verwandtschaft der indo-europäischen Sprachen untereinander und verstand, dass es nicht eine einzige Ursprache gab.
Die philologische Präzision seiner Texteditionen hingegen war schon zu seiner Zeit umstritten. Seine Pliniusausgabe legte er 1640 in Amsterdam vor, wir haben hier einen Nachdruck von 1693 aus Lyon, damals war Boxhorn schon seit vierzig Jahren tot. Ihre Beliebtheit verdankte diese Edition einem Essay, dem ungemeiner Erfolg beschieden war. Doch bevor wir uns dem zuwenden, müssen wir noch klären, um was für ein Werk es sich bei diesem Plinius eigentlich handelte.
Plinius: Ein Leben der Pflichterfüllung
Gaius Plinius Secundus wurde 61 oder 62 n. Chr. geboren und starb wohl gegen 113 n. Chr. So genau wissen wir das alles nicht, denn Plinius war keine wirklich wichtige Figur der Antike. Ein unbedeutender Aristokrat, wie es viele gab, ohne besonderen Esprit oder große Ambitionen. Ein ordentlicher Redner, ein fleißiger Typ, der so brav seinen Dienst auf Verwaltungsstellen verrichtete, wie man es von ihm nur erwarten konnte. Und trotzdem wünschte sich Plinius nicht so sehr wie ewigen Ruhm, wie er selbst schreibt. Aber wie sollte das gehen? Er versuchte es mit Gedichten und Reden – die praktisch alle verloren sind. Dann kam ihm eine Idee. Plinius schrieb Briefe, genauer gesagt Kunstbriefe. Die Adressaten sind eher Beiwerk, von Anfang an waren diese Texte zur Veröffentlichung gedacht. Daher ist Boxhorns Index der Adressaten zwar nett gemeint, eigentlich aber überflüssig. Ihrer eher schlichten Sprache haben es Lateinschüler auf der ganzen Welt zu verdanken, dass sie daran noch heute ihre Sprachkenntnisse testen dürfen. In neun solcher Briefbücher beschreibt Plinius den Alltag eines römischen Ritters, Gespräche, Kulturereignisse, Villen und vieles andere mehr, was Boxhorn durch einen umfangreichen Sachindex erschloss. Erst postum fügte man noch ein zehntes Buch mit Briefen hinzu, echten Briefen. Der illustre Korrespondenzpartner war kein geringerer als Kaiser Trajan (der große Eroberer), unter dem Plinius eine Statthalterschaft in Kleinasien versah und dem er regelmäßig auf die Nerven ging mit Fragen zum Kleinklein des Verwaltungsbetriebs, die er nicht auf eigene Verantwortung entscheiden wollte.
Außerdem dankte Plinius diesem Herrscher, Trajan, überschwänglich für die Ehre, den Konsulat, die höchste Magistratur, bekleiden zu dürfen. Diese Lobpreisung, der „Panegyricus“, zeichnete Trajan als Idealherrscher und ist gleichzeitig – die andere Seite der Medaille – ein Fürstenspiegel par excellence. Auch hier hat der eher unkreative Verwaltungsexperte eine Blaupause geliefert für die Spätantike, in der die neuen Konsuln ihre Herrscher regelmäßig mit solchen überschwänglichen Lobeshymnen bedachten.
Zwei Briefe des Plinius erlangten Weltruhm. Darin wandte er sich nämlich an Trajan, mit der Frage, wie man mit Christen umzugehen habe. Der Herrscher entschied pragmatisch nach dem Motto: nicht aktiv verfolgen, aber wenn sie sich etwas zu Schulden kommen lassen, werden sie bestraft. Für seine eigene moderate Haltung machten christliche Schreiberlinge Plinius kurzerhand selbst zum Christen. Und hier kommt unsere Ausgabe ins Spiel. Boxhorn fügt seiner Edition einen Essay hinzu, in dem er nachzuweisen versucht, dass Plinius sicher kein Christ war. Der Text endet in der polemischen Spitze: Auch Pontius Pilatus erwies Christus durch sein Urteil letztlich einen Dienst, indem er den Opfertod des Messias erst ermöglichte – das machte aus ihm aber auch noch keinen Christen. Touché! Und dieser mit spitzer Feder verfasste Text Boxhorns wurde zum Dauerbrenner. Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein fügten Herausgeber diese Abhandlung ihren Neuausgaben bei. Ähnlich beliebt war auch Boxhorns Lebensbeschreibung des Plinius gestützt auf Hinweise in den antiken Schriftquellen, die sich ebenfalls in dieser Edition findet.
Renaissance des Kunstbriefs in der Renaissance
Plinius und die Humanisten, das war ein ideales Gespann. Zum einen erwies sich Plinius immer als „human“ in seinen Texten, als jemand, der verlangte, dass man die Sklaven gut und wie Menschen behandeln möge, der Frauen Wertschätzung entgegen brachte, in manchem als Vorläufer des „Gentleman“ der Neuzeit gelten kann und niemandem so richtig auf die Füße trat mit extremen Ansichten. Sein (sogenanntes nachklassisches) Latein war viel eingängiger als etwa das Ciceros und konnte als stilistisches Vorbild dienen.
Und dann natürlich die Briefe selbst als Gattung. Die Gelehrten der Renaissance verbrachten einen Großteil ihrer Zeit nicht etwa mit dem Verfassen ihrer Werke, sondern mit dem Schreiben von Briefen. Falls Ihnen das seltsam erscheint, schauen Sie mal wieder in Ihren E-Mail-Eingang, was Sie vielleicht so beantworten sollten … Zwar waren die Briefe der Intellektuellen in der Regel echte Briefe, in denen sie sich austauschten und vernetzten („networken“ auf Neudeutsch). Aber das tat man in der Regel auf Latein und Plinius’ Sprache konnte als Referenz dienen. Männer wie Petrarca griffen aber auch die plinianische Gattung des Kunstbriefs auf und führten sie eifrig fort.
Wenn Sie eine handgreiflichere Nachwirkung unseres Textes auf die Renaissance haben möchten, dann schlendern sie mal durch einen großen Renaissance-Garten. Die waren stark von den Villenbeschreibungen des Plinius beeinflusst. Die wirkten indirekt noch bis ins 18. Jahrhundert fort und in die neue Welt, etwa zu „Monticello“, dem Landsitz von Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Was Sie sonst noch interessieren könnte
Diese Ausgabe finden Sie leider nicht im Netz, es gibt aber eine Gesamtausgabe des Plinius von 1720 mit Boxhorns Essay.
In einem der Briefe findet sich die legendäre Beschreibung des Vesuvausbruchs, bei dem der gleichnamige Onkel des Plinius stirbt. Der „ältere“ Plinius begründete zwar kein neues Genre, schuf durch seinen konkurrenzlosen Fleiß aber ein Referenzwerk: eine Ein-Mann-Enzyklopädie.