Hand aufs Herz: Sind Sie ein beliebter Gesprächspartner? Bestimmt! Dann sind Sie sicher auch beruflich erfolgreich. Falls nein: Lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen, das kann man lernen. Am Hof des absolutistischen Herrschers Ludwig XIV. entschied Beliebtsein über Erfolg oder gar vorzeitiges Ende des eigenen Lebensweges. Alles was Sie dazu wissen müssen, verpackte der Jesuit Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde 1688 nett in eine Geschichte zweier Freunde und reihte sich damit ein in das seinerzeit beliebte literarische Genre der „Moralisten“.
Artikeltext:
Moralist – nicht Moralapostel
Ein Moralapostel will heute wahrlich niemand mehr sein, einer dieser moralingetränkten Sauertöpfe, die genau wissen, wie man sich zu benehmen hat und andere ständig mit erhobenem Zeiger zurechtweisen. Doch das hat nichts mit unserem Thema zu tun, auch nicht mit der meist abstrakten Disziplin der Ethik. Ganz anders war das bei den französischen Moralisten der Neuzeit. Zwischen dem späten 16. und dem 18. Jahrhundert etablierten sich die Moralisten als Schöpfer einer Gattung, die es so nur in der französischen Literatur gibt.
Herausragende Autoren wie La Rochefoucauld, La Bruyère oder Blaise Pascal waren Aristokraten, die bei Hofe verkehrten – und allesamt kaum studierte Philosophen. Sie hatten einen essayistischen Ansatz und wollten nicht „die“ Moral systematisch erkunden, sondern die Menschen porträtieren in ihren Eigenarten, ihnen „aufs Maul schauen“ und ihr Verhalten schonungslos offenlegen. In dieser Tradition steht auch der Abt Bellegarde.
Jean-Baptiste Morvan de Bellegarde wurde 1648 in Nantes geboren, trat dem Jesuitenorden bei und wechselte später in den Orden des Franz von Sales. Bellegarde sollte sich einen Namen machen als Übersetzer vieler antiker Schriften und als Philosoph, dessen Werk immer wieder um den Menschen und seinen Umgang mit anderen Menschen kreiste. Sein literarisches Debüt gab er 1688 mit seinen „Überlegungen, was gefallen und missfallen kann im gegenseitigen Umgang“.
Sechs Abhandlungen und fünf Dialoge
Sein Werk gliederte Bellegarde in sechs Abhandlungen („Discours“) und fünf Dialoge („Dialogues“). Gewidmet ist es Louis-Auguste, dem Herzog von Maine und unehelichen aber legitimierten Sohn des Königs – der selbstverständlich die Lektüre gar nicht nötig hatte. Denn, wie Bellegarde in seiner Widmung gebührlich unterstreicht, ruhte sich der Herzog nicht auf den Lorbeeren seiner blaublütigen Geburt aus, sondern verdiente sich seine herausragende gesellschaftliche Stellung wegen seines tugendhaften Wesens. Und das brauchte es auch – Bellegarde zitiert hier seinen Gönner –, um am Hof Ludwigs des Großen zu gefallen. „Plaire“, gefallen, ist ein Schlüsselwort in dem Werk. Das Buch richtete sich an aristokratische Leser, die sich nicht in den Fallstricken der Hofintrigen verfangen wollten.
Bellegarde schickt zwei Freunde mit den griechischen Namen Euthyme und Theagene zunächst aufs Land, dann wieder nach Paris. Sie tun, was französische Adlige der Zeit eben taten, wenn sie Geschmack und Bildung besaßen: Sie unterhalten sich und diskutieren darüber, wie man sich wohl richtig verhält, wie man sich Freunde macht und sie behält. Sie dürfen gerne an den modernen Klassiker von Dale Carnegie denken: „Wie man Freunde gewinnt. Die Kunst beliebt und einflussreich zu werden“.
Denn auch bei Bellegarde geht es nicht um abstrakte ethische Überlegungen, sondern ganz praktisch darum, wie man im Haifischbecken des Versailler Königshofs überlebt. Es geht darum, wie man „gefällt“, also sich beliebt macht, aber auch, wie ehrlich man zu Freunden sein darf. Natürlich soll man Freunde nicht nur als Mittel zum Zweck betrachten. Aber darf man ihnen einen Dienst abschlagen? Und immer wieder erörtert Bellegarde, wie man sich zu verhalten habe, wenn es zum Bruch mit einem Freund kommt. Man möge sich dann nicht gleich rächen, lautet sein gemäßigter Rat. Wer will sich bei Hofe schon Feinde machen? Nicht ohne Grund ist ein Dauerthema das Loben. Wir alle wollen gelobt werden und ein freundliches Wort ist ein idealer Einstieg in eine gute Beziehung. Und wer nicht einschlafen konnte, weil er bei Hof einen Faux-pas begangen hatte, konnte einfach durch das Verzeichnis der behandelten Themen blättern, bis er fündig wurde. Ganz wie in einem modernen Ratgeber.
Nur durch „höflichen“ Umgang hielt man sich Türen und Optionen auf. Bellegarde streut immer wieder Anekdoten von historischen Personen ein, die dafür als Vorbilder dienen. Diese konkreten Beispiele verleihen der Schrift eine Leichtigkeit, die sie von Moraltraktaten abhebt. Wollten wir das Buch in einer modernen Buchhandlung kaufen, müssten wir nicht in der menschenleeren Abteilung „Philosophie und Theologie“ suchen, sondern uns mit unseren Ellbogen zu den Regalen der beliebten „Ratgeberliteratur“ hindurchkämpfen.
Die höfliche Gesellschaft – und was von ihr übrigblieb
Wenn Ihnen das Buch bekannt vorkommt, dann denken Sie vielleicht gerade an den berühmten Freiherrn von Knigge. Heute meinen wir mit Knigge, dass man zu wissen habe, wo welche Gabel hinkommt, mit welchem Löffel man die Austern schlürft und wann man in welche Art von Anzug schlüpft, um sich nicht selbst als manierlos zu enttarnen. Doch eigentlich ging es Knigge darum, das Zusammenleben durch Regeln einfacher zu machen – jedoch nicht nur bei Hof. Wer weiß, wann welche Regeln gelten, kann diese auch befolgen. Die Folge: Alle verhalten sich richtig und machen einander das Leben leichter. Zumindest in der Theorie.
Doch auch vor der indirekten Rezeption durch Knigge und andere Autoren war Bellegardes Buch noch zu seiner Lebzeit durchaus beliebt und wurde vielfach aufgelegt. Unsere Auflage ist eine zweite überarbeitete Edition, die sich – wie im Frontispiz betont wird – nach der Pariser Originalausgabe richtete. Offenbar verfügten nicht alle Nachdrucke über diese Autorität. Die traurige Seite: Obwohl Bellegarde Werk um Werk schrieb und veröffentlichte, geriet der Abt nach seinem Tod 1734 weitgehend in Vergessenheit.
Davon zeugt auch, dass sein Werk nicht als Digitalisat im Internet zu finden ist …
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Etwas förmlicher war das Thema in einem Buch zum richtigen Hofzeremoniell von Johann Christian Lünig von 1719/1720.
Apropos Ludwig XIV.: Sicher denken Sie da auch als erstes an die prächtigen Perücken. Aber wissen Sie, wie es zu dieser speziellen Mode kam? Lesen Sie hier, was Perücken am Hof des Sonnenkönigs mit dem Sexualleben der Zeit zu tun hatten.