Wenn Sie das nächste Mal ein Buch aufschlagen, schauen Sie sich die Titelseiten doch einmal genauer an. Manchmal geben diese schon weitreichende Auskünfte über den Inhalt des gesamten Buches. Und das meint natürlich viel mehr als nur den Titel! (Den kennen Sie hoffentlich schon, bevor Sie das Buch kaufen.) Die zwei Titelseiten dieser Ausgabe von Honoré de Balzacs La Peau de Chagrin (dt. Das Chagrinleder) verraten uns bereits in Grundzügen was passiert (den Plot) und wie es passiert (den Stil), also wie sich die Geschichte auf die Welt bezieht, nämlich in einer Mischung aus realistischen und fantastischen Elementen.
Was zeigt dieses Bild? Im Vordergrund ein ausgehobenes Grab, einen jungen Mann und eine allegorische Figur des Todes, verbildlicht als Skelett, die den Mann an den Haaren ins Grab zerrt. Im Hintergrund tanzende Damen, einige Herren, die sich an Tischen unterhalten, kurz: eine Gesellschaft, die tanzt und sich vergnügt, vielleicht in einem der vielen Pariser Kaffeehäuser. Und damit ist im Prinzip schon die ganze Geschichte erzählt.
Der junge Raphael de Valentin verzockt beim Glückspiel sein letztes Geld und fasst kurzerhand den Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Am Ende überlegt er es sich doch anders und findet stattdessen in einem Antiquitätenladen ein verwunschenes Stück Leder (das titelgebende Chagrinleder), das seinem Besitzer alle Wünsche erfüllen soll. Die Sache hat natürlich einen Haken oder besser gesagt einen Preis. Denn das Leder schrumpft bei jedem erfüllten Wunsch und wenn irgendwann nichts mehr davon übrig ist, endet damit auch das Leben seines Besitzers – des guten Raphaels. Er wird reich, feiert rauschende Feste, verliebt sich und muss am Ende doch sterben, denn alle Tricks der Welt helfen nicht dagegen, dass das verdammte Chagrinleder irgendwann dahinschwindet und mit ihm Raphael (quasi wortwörtlich, nämlich an der Schwindsucht). Es geht also auf der einen Seite um den Kampf Raphaels mit dem Tod und andererseits um ein Porträt der dekadenten französischen Gesellschaft im frühen 19. Jahrhundert – genau wie es das Bild andeutet.
Artikeltext:
Ein rätselhafter Schnörkel
Blättern wir eine Seite weiter. Hier begegnen wir einem seltsamen Schnörkel. Darunter steht „Sterne (Tristram Shandy, ch. cccxxii).“ Scheinbar zitiert Balzac hier also den Roman von Laurence Sterne Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman, genau genommen das 322. Kapitel. In Sternes Roman gibt es tatsächlich einen solchen Schnörkel – der steht aber in Band 9, Kapitel 4 – ein 322. Kapitel gibt es gar nicht. Was das soll? Vielleicht hilft die Originalpassage aus Sterne weiter.
In Tristram Shandy geht es um folgende Szene: Tristrams Onkel Toby unterhält sich mit seinem Diener, Korporal Trim, über das Junggesellendasein. Der Korporal, der sonst dafür bekannt ist, dass er ohne Punkt und Komma redet, antwortet diesmal unerwartet wortkarg. Er sagt: „Solange ein Mann frei ist – “ und vollendet den Satz mit einer schwungvollen Geste mit seinem Stock. Mit dieser Geste zeichnet er eine gekringelten Linie in die Luft, die auf der Buchseite abgebildet ist; worauf Shandy entgegnet: „ein ganzes Tausend von meines Vaters subtilsten Syllogismen hätte nicht mehr zugunsten der Ehelosigkeit sagen können“ – ein Bild sagt mehr als tausend Worte.
Wie soll man das nun verstehen? Es gibt eine ganze Reihe von Lesarten. Die energische Geste mit dem Stock drückt womöglich besser das Gefühl von Freiheit und Temperament aus, das ein Junggeselle empfindet, als viele Worte. Genauso gut kann man hier verschlungene Lebenswege sehen, menschliche Irrungen und Wirrungen und die Unmöglichkeit, diese geradlinig nachzuerzählen. Bemerkenswert hieran ist, dass so eine Abbildung nicht gerade den Konventionen des literarischen Realismus entspricht. Soll heißen: Der Realismus möchte, dass wir beim Lesen vergessen, dass wir lesen und nur noch die erzählte Welt wahrnehmen. Er weiß natürlich, dass Geschichten nicht „echt“ sind, dass sie ausgedacht sind, aber er will, dass wir diese Illusion vergessen und sie so lesen als ob sie wahr seien. Dazu passt es nun überhaupt nicht, den Textfluss mit einem solchen unverschämten Schlenker zu unterbrechen – denn der bricht die Illusion, er unterbricht wortwörtlich den Lesefluss.
Bei Sterne ist das eine Sache, denn das ganze Buch ist ziemlich absurd. Angeblich eine Autobiographie, entspricht es so gar nicht dem, was wir uns unter einer klassischen Biographie vorstellen. Sie beginnt nicht etwa bei der Geburt Shandys, von der erfahren wir erst nach drei Kapiteln. Der Text enthält außerdem geschwärzte Stellen, 1-Satz-Kapitel und allerlei andere experimentelle Spielereien. Bei Balzac ist das eine andere Sache – der gilt nämlich als einer der Urväter des französischen Realismus. Was will Balzac also mit diesem Zeichen?
Realismus und Fantasie
Einerseits soll Das Chagrinleder Gesellschaftskritik üben, wie so viele andere Werke Balzacs auch. Der Roman ist Teil von Balzacs Mammutprojekt, La Comédie Humaine (dt. Die menschliche Komödie). Hiermit wollte er in geplanten 137 (!!!) Erzählungen, Essays und Romanen die Gesamtheit der französischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert abbilden, ein überdimensioniertes Sittengemälde. (Er kam vor seinem Tod übrigens „nur“ bis 91.) Dieses Gesellschaftsporträt bildet Menschen aus allen sozialen Milieus ab – Ärzte, Politiker, Adlige, Dandys, Künstler, Spielsüchtige, Bankiers und Kurtisanen – und betrachtet ihr Verhältnis zum Geld, zu Moral, zueinander. Auch in Das Chagrinleder geht es um diese grundlegenden Fragen der Zeit: Raphael versucht erst asketisch zu leben, dann hedonistisch – beides geht nicht gut. Sein Freund Rastignac verkörpert einen hemmungslosen Hedonismus und Egoismus, während Raphaels Geliebte Pauline Stellvertreterin für den altruistischen Menschen ist. Das ist der realistische Anteil des Romans.
Darüber hinaus enthält die Geschichte aber auch fantastische Elemente, angefangen mit dem magischen Chagrinleder, das Wünsche erfüllen kann. Das ist übrigens eine Variante des bekannten Teufelspakts. Sie wissen schon: Verkaufe Seele an Teufel gegen Liebe/Geld/ein längeres Leben, wie zum Beispiel Faust es tut. Dieser Einbruch des Fantastischen in das Realistische ist – vielleicht – in der Form der seltsam gewundenen Linie auf der Titelseite verbildlicht, die Balzac von Sterne entlehnt hat. Eine andere Lesart will hier die Lebenskraft Raphaels symbolisiert sehen, die erst kraftvoll ist und dann immer schwächer wird, je mehr das verzauberte Leder zusammenschrumpft. Vielleicht ließen sich auch inhaltliche Bezüge zwischen der Bachelorszene in Sternes Tristram Shandy und den ausschweifenden Festen in den Pariser Salons ziehen. Und hier schließt sich der Kringel, der Kreis eben doch nicht. Sondern verweist lediglich darauf, dass wir manchmal auf das Fantastische, das Nicht-Reale zurückgreifen müssen, um das Reale besser zu verstehen.
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